Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLVI

Verfahren Nr.892 - 897 (1984 - 1985)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.897 LG Hagen 04.10.1985 JuNSV Bd.XLVI S.543

 

Lfd.Nr.897    LG Hagen    04.10.1985    JuNSV Bd.XLVI S.550

 

der Wirtschaft" beschleunigt. Jüdische Vermögen mussten angemeldet werden. Der offene Terror gegen die Juden erreichte seinen Höhepunkt in der "Reichskristallnacht" vom 9. zum 10.November 1938 nach der Erschiessung des deutschen Legationsrates vom Rath durch den Juden Grünszpan in Paris. In dieser Nacht wurden tausende jüdischer Geschäfte und Wohnungen geplündert und zerstört. Synagogen wurden in Brand gesetzt und die Juden selbst misshandelt oder gar getötet. In einem späteren Bericht des obersten Parteigerichts an Göring war von 91 Tötungen die Rede. Nach den mündlichen Anweisungen des Reichspropagandaministers Goebbels an die Parteiführer sollten die Aktionen gegen die Juden als spontane Reaktion des Volkes erscheinen, in Wirklichkeit aber von der SA und sonstigen Formationen der Partei planmässig organisiert und durchgeführt werden. Den Juden wurde eine "Sühnezahlung" von 1 Milliarde Reichsmark auferlegt, die später auf 1 1/4 Milliarden Reichsmark erhöht wurde.

 

Während an derartigen offenen Terrorakten vor allem die SA beteiligt war, führte die SS eine nicht so augenfällig in Erscheinung tretende Verhaftungsaktion durch, welche die Verbringung von etwa 30.000 insbesondere wohlhabenden Juden in Konzentrationslager zum Ziele hatte, um ihre Auswanderung unter Hinterlassung grosser Vermögensteile zu beschleunigen.

 

Die gesetzgeberischen Massnahmen zielten jeweils auf die vollkommene Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben ab. Die Betätigung im selbständigen Handel und Gewerbe wurde ihnen untersagt. Sie konnten zur Veräusserung ihrer gewerblichen, landwirtschaftlichen und forstwirtschaftlichen Betriebe, ihres Grundbesitzes und sonstigen Vermögens gezwungen werden. Schliesslich wurde auch die Beschränkung ihrer persönlichen Rechte bis zur völligen Entrechtung weitergetrieben. Es wurden Sperrbereiche für Juden geschaffen, der Besuch von Theatern, Konzerten, Museen und die Benutzung anderer öffentlicher Einrichtungen wurden ihnen verboten. Der Mieterschutz wurde für sie gelockert, dafür wurden sogenannte Judenhäuser geschaffen. Den Juden wurden Führerscheine entzogen, Fernsprechanschlüsse gekündigt und dergleichen mehr.

 

Nach Beginn des Krieges wurden ihnen die Kleiderkarten versagt. Schliesslich mussten die Juden zu ihrer Kennzeichnung in der Öffentlichkeit den Judenstern tragen. Strafbare Handlungen von Juden wurden nicht mehr durch die ordentlichen Gerichte, sondern durch die Polizei geahndet. Sie wurden nunmehr praktisch aus allen Lebensbereichen ausgeschlossen. Ihre Diskriminierung führte letztlich dahin, dass sie von jeder menschlichen Gemeinschaft, ja sogar von jeder blossen Berührungsmöglichkeit mit Reichsbürgern ferngehalten wurden. Dies hatte zur folge, dass die in Deutschland verbliebenen Juden in grösste wirtschaftliche und persönliche Not gerieten. Den Juden in Deutschland blieb nach dieser zweiten Phase der Verfolgungsmassnahmen zum Bestreiten des Lebensunterhalts nur einfachste Arbeit. Selbst diese zu erhalten fiel schwer, zumal da keine Freizügigkeit gewährt wurde und an zahlreichen Betrieben und auch Ortsausgängen Schilder angebracht wurden mit Aufschriften wie "Judenfrei" oder "Juden nicht erwünscht".

 

Zwischenzeitlich überlegte die nationalsozialistische Führung, wie man sich der Juden ganz entledigen könne. 1939 schuf Göring als Beauftragter für den 4-Jahres-Plan eine Reichszentrale für jüdische Auswanderung. Aufgabe dieser Zentralstelle war es, mit Hilfe einer Zwangsvereinigung der Juden in Deutschland und durch den Einsatz von Mitteln, die man bei der Auswanderung von wohlhabenderen Juden als Auswanderungsabgaben erhoben hatte, auch die Auswanderung der mittellosen jüdischen Bevölkerungsteile voran zu treiben. Durch den Kriegsausbruch am 1.September 1939 wurden die Auswanderungsmöglichkeiten aber erheblich eingeschränkt. Nach dem Polen-Feldzug wurde im Spätherbst 1939 der Plan ins Auge gefasst, im Generalgouvernement, dem unter deutsche Verwaltung gestellte Restgebiet Polens, ein grosses Judenreservat zu bilden. Vorgesehen für ein solches Reservat war zunächst ein Gebiet bei Krakau, später der Distrikt Lublin. Dort sollte ein eigener Judenstaat