Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXVI

Verfahren Nr.758 - 767 (1971 - 1972)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.758 LG Kiel 02.08.1971 JuNSV Bd.XXXVI S.5

 

Lfd.Nr.758    LG Kiel    02.08.1971    JuNSV Bd.XXXVI S.49

 

aus Frankfurt/Oder Sonnenburg infolge Kriegseinwirkung nicht erreichen sollte, bestanden ebenso wenig Chancen für ein anderes Kommando aus Berlin. Es liegt nahe, dass Nic. durch diese Einlassung zu erkennen geben will, dass die Tat ein anderer vollbracht hätte, wenn er sie nicht selbst begangen hätte.

 

5. Der Tatort Zuchthaus Sonnenburg

 

5.1 Belegung

 

Dass Zuchthaus in Sonnenburg lag etwa 10 Gehminuten östlich der Stadt an der Chaussee Küstrin-Schwerin an der Warthe. Die Belegungsstärke der Anstalt wechselte häufig und betrug im Januar 1945 etwa 1.000 Häftlinge. Diese Zahl ist eine ungefähre Schätzung. Es können weniger Häftlinge, aber auch mehr gewesen sein. Die vermutlich zuverlässigste Auskunft hätte der nach der Aussage Kli. Anfang Februar 1945 in der vorläufigen Abwicklungsstelle des Zuchthauses Sonnenburg für eine vorgesetzte Dienststelle gefertigte Bericht und die ihm zugrunde liegende Häftlingskartei geben können. Diese Unterlagen sind der Aussagen Ru. zufolge am 12.Februar 1945 nach Brandenburg überführt worden. Diese Anstalt war mindestens bis 20.April 1945 noch nicht erobert, denn es wurden nach der Aussage Lau. an jenem Tage noch Todesurteile vollstreckt. Es ist aber nicht bekannt, ob diese Unterlagen abhanden gekommen oder geborgen worden sind. Dem Gericht lagen sie nicht vor.

 

Der Anstaltsleiter Kno. und der damals im Zuchthaus als Betriebsleiter tätige Zeuge Bla. beziffern die Häftlingszahl mit etwa 1.000. Nach Bla. soll die Normalbelegung 900 Häftlinge betragen haben und die Anstalt Anfang 1945 überbelegt gewesen sein. Die ungefähre Anzahl von 1.000 Häftlingen wird ebenfalls von dem ehemaligen Hauptwachtmeister im Innendienst, Wob., dem früheren ersten Justizhauptwachtmeister im Arbeitsbetrieb Ger., und dem damaligen Küchenwachtmeister Haa. genannt. Von diesen Zeugen hat sich das Gericht mit Ausnahme des Zeugen Bla. kein eigenes Persönlichkeitsbild verschaffen können, weil sie inzwischen verstorben sind. Dennoch sind diese Angaben nicht ganz wertlos, weil sie mit der Aussage des Zeugen Bla., der sich nach seinen Kräften um eine wahrheitsgemässe Aussage bemühte, im Einklang stehen. Die Angaben aller Zeugen beruhen insoweit auf groben Schätzungen. Die Aussage Kno. hat zudem auch gewechselt. In einer richterlichen Vernehmung in einem Disziplinarverfahren vom 28.1.1957 hat er die Häftlingszahl mit 850 beziffert. Den Aussagen des früheren Hilfsaufsehers Helmut Franz Mül. (1030-1050 Häftlinge) und des in der Registratur und der Annahme beschäftigten ehemaligen Häftlings Gla. (700-800 Gefangene) ist weniger Wert beizumessen, weil Mül. aufgrund seiner untergeordneten Stellung und Gla. infolge seines vorzeitigen Altersabbaus nur wenig verlässliche Angaben machen konnten. Im übrigen war die Beurteilung der Belegungsstärke für alle befragten Zeugen schwierig zu übersehen, weil sich durch das Zurücknehmen von Aussenlagern und den vorübergehenden Aufenthalt von Gefangenen aus Wronke unverhältnismässig viele Veränderungen in kürzester Zeit vollzogen hatten.

 

Auch die Anzahl der überlebenden Gefangenen ist von den hierüber befragten Zeugen verschieden angegeben worden. Die Zahlenangaben der Zeugen bewegten sich zwischen 100 und 200 Gefangenen. Auch diese Zahlen wurden von den Zeugen geschätzt. Es haben sich jedoch keine Hinweise dafür ergeben, dass mehr als 200 Gefangene an dem Treck nach Westen teilgenommen haben. Es sind eher weniger gewesen. Zu Gunsten der Angeklagten konnte daher festgestellt werden, dass 200 Gefangene überlebt haben.

 

Die Leichen der in Sonnenburg erschossenen Gefangenen wurden nach Einmarsch der russischen Armee in einem Massengrab an der Chaussee in der Nähe der Strafanstalt beigesetzt. Nach einer Bescheinigung der Kommandantur der Miliz in Küstrin vom 25.9.1945, an deren Richtigkeit sich keine Zweifel ergeben haben, sind in einem Grab von Häftlingen in der Nähe des Gefängnisses 819 Leichen von Personen verschiedener Nationalität bestattet worden.