Justiz und NS-Verbrechen Bd.XVII

Verfahren Nr.500 - 522 (1960 - 1961)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.511a LG Aurich 29.05.1961 JuNSV Bd.XVII S.421

 

Lfd.Nr.511a    LG Aurich    29.05.1961    JuNSV Bd.XVII S.488

 

Struve ist ein einfacher, mittelmässig intelligenter Mensch, der wenig Entschlussfreude und Selbstbewusstsein zeigt. Er hatte keinen Beruf erlernt, war über seine Betätigung in einem Freikorps zur Reichswehr gekommen und dort als Turnierreiter ausgebildet worden. Nach dem Ablauf seiner Dienstzeit ermöglichte ihm seine reiterliche Befähigung, zunächst Reitlehrer und später hauptamtlicher SS-Führer zu werden. Er wurde dadurch aber keineswegs zu einer Führernatur, sondern blieb weiterhin ein Reitlehrer und Wachtmeistertyp. Obwohl er in der SS einen höheren Rang bekleidete als Dr. Scheu und sogar dessen unmittelbarer Vorgesetzter war, liess er sich wahrscheinlich weitgehend von ihm beeinflussen, da er von der intellektuellen Überlegenheit und dem hohen Ansehen Dr. Scheu's stark beeindruckt war.

 

Der Angeklagte Schmidt, wesentlich intelligenter als der Angeklagte Struve, hatte in seiner Jugend seine hochgesteckten beruflichen Ziele nicht erreichen können. So war er praktisch als ein Gescheiterter zur Grenzpolizei gekommen. Dort wollte er sich aber nicht auf die Dauer mit der bescheidenen Stellung eines Kriminalassistenten begnügen; er hoffte vielmehr, hier eine Gelegenheit für einen beruflichen Aufstieg zu finden. Der Angeklagte Schmidt war daher der Typ eines Strebers, der stets bemüht war, bei seinen Vorgesetzten gut aufzufallen. Nachdem er im Frühjahr 1941 (angeblich zu Unrecht) mit einer Arreststrafe belegt worden war, glaubte er offenbar, sich besonders anstrengen zu müssen, um das Wohlwollen seiner Vorgesetzten wieder zu erwerben. Nur so ist es erklärlich, dass er trotz seiner Kenntnis von dem Plan der Ausrottung aller Juden, keinen ernsthaften Versuch gemacht hat, sich der Teilnahme an der Aktion zu entziehen, und dass er bei strengster Auslegung des (nach seiner unwiderlegten Einlassung) erhaltenen Befehls eine so grosse Aktivität am Erschiessungsplatz entfaltet hat.

 

Der Angeklagte Bastian ist ein wesentlich primitiverer Mensch als der Angeklagte Schmidt. Er ist aus kleinen Verhältnissen hervorgegangen und war ohne erlernten Beruf als Arbeiter tätig, bis er im Jahre 1928 für längere Zeit arbeitslos wurde. Da er aus wirtschaftlichen Gründen frühzeitig der NSDAP und der SA beigetreten war, nutzte er nach der sogenannten Machtübernahme die Chance, eine Lebensstellung als kleiner Beamter bei der Grenzpolizei zu finden. Er hatte keinen weiteren beruflichen Ehrgeiz und war mit seinem Posten in Heydekrug offensichtlich zufrieden. Zu selbständigen Entschlüssen konnte er sich nur schwer durchringen, da er einmal einen starken Glauben an die Autorität besass, zum anderen aber auch zu bequem war, um sich selbst viel Gedanken zu machen, solange ein anderer die Verantwortung trug. Daraus erklärt sich seine Bereitschaft, den (angeblich über den Angeklagten Schmidt erhaltenen) Befehl blindlings auszuführen, obwohl er den verbrecherischen Zweck erkannt hatte.

 

Der Angeklagte Jagst, der es beim Landratsamt in Heydekrug vom Lehrling bis zum Regierungssekretär gebracht hatte, war offenbar ein tüchtiger und zuverlässiger Beamter und ein ebenso tüchtiger und zuverlässiger Unterführer in der allgemeinen SS. Seine Beteiligung an den Zwangsarbeiteraktionen der Heydekruger SS und seine Mitwirkung bei der Massenerschiessung in Naumiestis ist wahrscheinlich ebenfalls durch einen starken Glauben an die Autorität und vor allem durch das persönliche Beispiel des Mitangeklagten Dr. Scheu gefördert worden.

 

Die Schuld der Angeklagten Dr. Scheu und Struve wiegt im Vergleich zu der der anderen Angeklagten weitaus am schwersten. Bei ihnen war der Befehlsdruck am schwächsten. Beide waren die verantwortlichen Führer am Erschiessungsplatz. Sie haben die Aktion, wenn auch nicht vorbereitet, so doch an Ort und Stelle geleitet und die entsprechenden Befehle zu ihrer reibungslosen Durchführung gegeben. Beide tragen die Verantwortung dafür, dass sich ihre SS-Männer, darunter auch 17jährige Oberschüler, an der Mordaktion beteiligten. Beide haben selbst auf die Opfer geschossen und durch diese aktivste Tatbeteiligung den übrigen Anwesenden, besonders den ihnen unterstellten SS-Männern, ein furchtbares Beispiel gegeben.

Im Verhältnis der beiden Angeklagten Dr. Scheu und Struve zueinander ist Dr. Scheu der schuldigere. Zwar war der Angeklagte Struve der ranghöchste Führer der Aktion. Ihm stand jedoch der Angeklagte Dr. Scheu zur Seite. Berücksichtigt man dabei, dass der Angeklagte Struve ein Mensch von einfacher Denkart war, dessen berufliche Tätigkeit