Justiz und NS-Verbrechen Bd.XVII

Verfahren Nr.500 - 522 (1960 - 1961)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

> zum Inhaltsverzeichnis

Lfd.Nr.511a LG Aurich 29.05.1961 JuNSV Bd.XVII S.421

 

Lfd.Nr.511a    LG Aurich    29.05.1961    JuNSV Bd.XVII S.487

 

zu bewahren, moralisch versagt und dadurch die Schuld am Tod vieler Menschen auf sich geladen haben.

Die ungewöhnlichen Zeitumstände, die Verblendung der Angeklagten durch die nationalsozialistische Ideologie und Propaganda und die Tatsache, dass sie unvermittelt und ungewollt vor eine schwerwiegende sittliche Entscheidung gestellt wurden, müssen bei der Strafzumessung erheblich zu ihren Gunsten berücksichtigt werden.

 

Ferner mag den Angeklagten zugutegehalten werden, dass ihr Entschluss durch die Überlegung, das Leben der Opfer letzthin doch nicht retten zu können, und durch die Erwartung, dass ihr Handeln keine strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen werde, erleichtert worden ist.

Zu Gunsten der Angeklagten spricht auch ihr rechtschaffener Lebenswandel vor und nach Begehung der Tat. Alle Angeklagten sind bis heute unbestraft. Sie alle hat das schwere Schicksal getroffen, als Flüchtlinge Existenz, Hab und Gut und ihre Heimat zu verlieren. Alle haben nach dem Zusammenbruch schwere Jahre in der Gefangenschaft oder in der Internierung durchgemacht. Alle haben dieses schwere Schicksal gemeistert. Sie haben sich nach ihrer Entlassung aus dem Nichts heraus eine neue Existenz aufgebaut, ohne in dieser schweren Zeit mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Die Angeklagten sind zumeist verheiratet, leben in guten Ehen und haben Kinder, welche die Taten ihrer Väter vielleicht nicht begreifen oder ihnen sogar fassungslos gegenüberstehen.

 

Zuungunsten der Angeklagten ist dagegen die Bedenkenlosigkeit zu berücksichtigen, mit der sie sich an dem grauenvollen Massenmord beteiligt haben. Alle Angeklagten haben die (wirklichen oder vermeintlichen) Befehle widerspruchslos befolgt, ohne auch nur den Versuch zu machen, sich der Teilnahme an der Aktion zu entziehen. Sie haben sämtlich nicht einmal Überlegungen in dieser Richtung angestellt. Die menschliche Fehlleistung begann bei den Angeklagten Dr. Scheu, Struve und Jagst schon vor ihrer Teilnahme an der Erschiessungsaktion bei Naumiestis. Denn sie hatten sich unmittelbar nach Beginn des Russlandfeldzuges für das schmutzige Geschäft der Zwangsverschleppung jüdischer Arbeitskräfte nach Heydekrug hergegeben und sich daran, die Angeklagten Dr. Scheu und Struve sogar in führender Rolle, eifrig beteiligt, obwohl sie hierbei keinem fühlbaren Befehlsdruck ausgesetzt waren.

Zuungunsten der Angeklagten ist ferner das Ausmass der Massentötungen, die rohe und brutale Durchführung der Aktion und die bewusste Missachtung der Persönlichkeit der Opfer in Betracht zu ziehen, die von den Angeklagten und ihren Mithelfern wie Schlachtvieh zum Erschiessungsplatz gefahren, dort ihres Geldes, ihrer Wertsachen und ihrer noch brauchbaren Kleidung beraubt und dann - teilweise vor den Augen ihrer Leidensgenossen und in Gegenwart ihrer Angehörigen und Freunde - auf scheusslichste Weise umgebracht wurden.

Schliesslich sind auch die schädlichen Folgen der Massenexekution für das Ansehen des deutschen Volkes in der Welt zu berücksichtigen. Die Angeklagten haben durch ihre Mitwirkung bei den Judenexekutionen dazu beigetragen, dass das deutsche Volk auf Jahrzehnte hinaus mit dem Odium der Judenverfolgung belastet ist, und auch deshalb schwere Schuld auf sich geladen.

 

b. Besondere Strafzumessungsgründe

 

Das Mass der Schuld der einzelnen Angeklagten wird unter anderem durch ihre Intelligenz, ihren Bildungsgrad, ihre soziale Stellung, ihre dienstliche Eigenschaft sowie durch die Intensität ihrer Mitwirkung und das Gewicht ihres Tatbeitrages bestimmt; insoweit bestehen bei den Angeklagten erhebliche Unterschiede.

Der Angeklagte Dr. Scheu besass unter ihnen als Grossgrundbesitzer und Arzt die höchste soziale Stellung und den höchsten Bildungsgrad. Er stammte aus einer Generation, die mit seiner Heimatstadt Heydekrug eng verknüpft war und sich grosse Verdienste um diese Stadt erworben hatte. Er genoss daher bei der Bevölkerung des Kreises ein hohes Ansehen und wirkte schon aus diesem Grunde durch seine Beteiligung bei den Judenverfolgungen beispielgebend für die übrigen Tatbeteiligten.

 

Die Persönlichkeit des Angeklagten Struve ist von der des Angeklagten Dr. Scheu grundverschieden.