Justiz und NS-Verbrechen Bd.XVII

Verfahren Nr.500 - 522 (1960 - 1961)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.511a LG Aurich 29.05.1961 JuNSV Bd.XVII S.421

 

Lfd.Nr.511a    LG Aurich    29.05.1961    JuNSV Bd.XVII S.477

 

Willenskundgebung Hitlers beruhten; denn "obrigkeitliche Anordnungen, die die Gerechtigkeit nicht einmal anstreben, den Gedanken der Gleichheit bewusst verleugnen und allen Kulturvölkern gemeinsame Rechtsüberzeugungen von Wert und Würde der menschlichen Persönlichkeit gröblich missachten, schaffen kein Recht, und ein ihnen entsprechendes Verhalten bleibt Unrecht" (BGHSt. Bd.2 S.173 ff. (177) und S.234 ff. (238/39)).

Die physische Vernichtung der Juden war der Ausfluss eines erbarmungslosen Rassenhasses und Rassenwahns. In den Juden haben die Taturheber als führende Männer des Nationalsozialismus Menschen minderen Ranges, schlechthin Untermenschen erblickt, die ihrer Ansicht nach neben der "arischen Herrenrasse" nicht bestehen konnten und deshalb vernichtet werden sollten.

 

Die Rechtswidrigkeit der nationalsozialistischen Vernichtungsmassnahmen zur Ausrottung der Juden wird auch nicht durch irgendwelche Rechtfertigungsgründe, etwa in der Form der Staatsnotwehr (§53 StGB), des übergesetzlichen Notstandes, des Staatsnotstandes (§54 StGB) oder der völkerrechtlichen Repressalie (eines im Völkerrecht anerkannten letzten Mittels, den Gegner, seine Streitkräfte und seine Bevölkerung zur Einhaltung der Kriegsgesetze zu zwingen) ausgeschlossen.

Staatsnotwehr (§53 StGB) kommt schon deshalb nicht in Frage, weil es sich bei den Vernichtungsmassnahmen nicht etwa um die Abwehr eines in der Gegenwart drohenden Angriffs gehandelt hat, was die Haupttäter nach der Überzeugung des Schwurgerichts auch gewusst haben. Übergesetzlicher Notstand und Staatsnotstand (§54 StGB) scheiden deshalb aus, weil es an der Verhältnismässigkeit zwischen der Schwere der Gefahr und der durch die Abwehrhandlung begangenen Rechtsgüterverletzung fehlt. Die Massentötungen der Juden waren auch nicht im entferntesten das einzige Mittel, um das bedrohte Rechtsgut, nämlich das Deutsche Reich und das Deutsche Volk, zu schützen, wie die Haupttäter nach der Überzeugung des Schwurgerichts auch klar erkannt haben. Bei der subjektiven Einstellung der Haupttäter kommen auch Putativnotwehr und Putativnotstand nicht in Betracht.

Die Massentötungen der Juden waren auch nicht als kriegerische Repressalie zu rechtfertigen. Denn einmal haben die Haupttäter selbst die - schon vor dem Feldzugsbeginn beschlossene - Judenvernichtung gar nicht als Repressalie gegen irgendwelche Völkerrechtsbrüche des Gegners aufgefasst, zum anderen würde eine solche Massnahme auch unter dem Gesichtspunkt der völkerrechtlichen Repressalie nicht zu rechtfertigen sein, weil sie den einfachsten Anforderungen der Menschlichkeit und des öffentlichen Gewissens widerspricht und daher weit über die Grenzen einer zulässigen Repressalie hinausgeht.

 

d. Kein Verbotsirrtum

 

Die Taturheber sind sich nach der Überzeugung des Schwurgerichts bei der Planung und Durchführung dieser Massnahmen der Rechtswidrigkeit ihres Tuns bewusst gewesen. Sie haben klar erkannt, dass eine so ungeheuerliche Massnahme, durch welche die gesamte jüdische Rasse in Osteuropa ausgerottet werden sollte, der menschlichen Moral und dem Völkerrecht widersprach und jeder rechtlichen Grundlage entbehrt. Denn die Rechtswidrigkeit solcher Massnahmen war auch in der damaligen Zeit so selbstverständlich, dass sie jedem zivilisierten Menschen ohne weiteres einleuchten musste. Deshalb haben die Haupttäter auch die Planung und die Durchführung geflissentlich geheimgehalten und getarnt, solange und soweit es ihnen möglich war.

 

e. Keine sonstigen Schuldausschliessungsgründe

 

Die Haupttäter haben nach den Feststellungen des Schwurgerichts vorsätzlich und schuldhaft gehandelt. Irgendwelche Schuldausschliessungsgründe sind bei ihnen nicht ersichtlich. Insbesondere ist Adolf Hitler jedenfalls in der hier in Frage kommenden Zeit noch voll zurechnungsfähig gewesen. Auch bei den übrigen Haupttätern (Himmler, Heydrich und ihre Umgebung) bestehen keine Zweifel an ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit.