Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXV

Verfahren Nr.747 - 757 (1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.756a LG Saarbrücken 29.06.1971 JuNSV Bd.XXXV S.389

 

Lfd.Nr.756a    LG Saarbrücken    29.06.1971    JuNSV Bd.XXXV S.445

 

Lager zurückzukehren. Auf dahingehende Vorhalte erwiderte der Zeuge He., er habe solche Aussagen bei dem Untersuchungsrichter nicht gemacht.

 

Dieses Abstreiten der von ihm unterschriebenen früheren Bekundungen und seine davon abweichenden jetzigen Aussagen lassen Zweifel aufkommen, ob die Darstellung des Zeugen in ihrem Kernbestand, den er im Jahre 1963 wie heute gleich geschildert hat, der Wirklichkeit entspricht. Obige Widersprüche zeigen, dass der jetzt 66-jährige Zeuge über keine ganz klare Erinnerungen mehr verfügt. Andererseits machte er bezüglich Detailpunkten präzise und zutreffende Angaben. So schilderte er zum Beispiel richtig die Abwesenheit des Angeklagten im Sommer 1942 bis Anfang August (siehe oben A IV 7), erinnerte sich auch klar an den Vorarbeiter seiner Brigade namens Link, charakterisierte und beschrieb richtig - wenn auch ohne Namensnennung - den Zeugen Ble. sowie den berüchtigten Röhrich, der SA-Uniform getragen habe und stets einen Stock oder eine Pistole mit sich geführt habe, ferner erwähnte er das Spannungsverhältnis zwischen Gebauer und Willhaus. Diesen richtigen Erinnerungsbildern steht aber bezüglich seiner Unterkunft eine objektiv falsche Angabe gegenüber, die den Beweiswert seiner Aussage insgesamt schmälert. Wenn der Zeuge bekundete, er habe nach kurzem Aufenthalt im ZAL bis zu seiner Flucht Ende 1942 / Anfang 1943 im DAW-Gelände in einer Baracke in der Nähe seines dortigen Arbeitsplatzes wie alle anderen Arbeiter gewohnt, so liegt insoweit angesichts des übrigen Ergebnisses der Beweisaufnahme eindeutig ein Erinnerungsfehler des Zeugen vor, der dagegen spricht, dass er über die damaligen Verhältnisse in den DAW - zumindest räumlich und örtlich - noch gut orientiert ist.

 

Zwar sind an keiner Stelle seiner Angaben Anhaltspunkte zu Tage getreten, die die Aussageehrlichkeit des Zeugen He. in Frage stellen könnten. Auch lassen sich obige Widersprüche zwanglos mit dem Zeitablauf seit der letzten Vernehmung im Jahre 1963 erklären. Die von den damaligen Bekundungen abweichenden jetzigen Darstellungen betreffen zweitrangige Randpunkte des Geschehens, die sich zwischenzeitlich im Erinnerungsbild des Zeugen verschoben haben könnten. Sein Betonen, er habe von seiner jetzigen Aussage Abweichendes auch 1963 nicht erwähnt, könnte als Anhaltspunkt dafür gesehen werden, dass der Zeuge von der Richtigkeit seiner jetzigen Angaben fest überzeugt ist und sich davon differierende Schilderungen gar nicht vorstellen kann, was bei unbewusster Verschiebung seines Gedächtnisbildes seit 1963 verständlich wäre. Die wahrscheinlichste Erklärung für die Widersprüche und den Erinnerungsfehler über die Lage der Unterkunftsbaracke der Arbeiter dürfte aber wohl darin liegen, dass bei dem 66-jährigen Zeugen, bei dem besonders starke Abbauerscheinungen und Konzentrationsunsicherheiten in der Hauptverhandlung festzustellen waren, die biologischen Kapazitäten seines Gedächtnisses vermindert sind.

 

Alle diese Faktoren lassen es nicht zu, auf die Aussage des Zeugen He., zu der keine den speziellen Fall sonst bestätigende Erkenntnisse aus der übrigen Hauptverhandlung hinzutraten, eine Verurteilung des Angeklagten zu stützen.

 

IV. Fälle 9 und 10 der Anklageschrift

 

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten weiter vor, im Herbst 1942 ein 17-jähriges Mädchen, das mit einer Arbeitskolonne täglich aus dem Ghetto in die DAW gekommen sei, durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet zu haben (Fall 9 der Anklageschrift), einige Tage später aus der gleichen Arbeitskolonne eine Frau, nachdem er sie zuerst getreten und geschlagen habe, erschossen zu haben (Fall 10 der Anklage).

 

Beide Vorfälle hat die Zeugin Anna Cwi. in der Hauptverhandlung geschildert, und zwar wie folgt: Vor der "Baracke Schwarz" seien die Arbeiterinnen der DAW morgens vor der Arbeit gezählt worden. Eines Tages hätten sie in Reihen zu je fünf Frauen gestanden. Der Angeklagte habe an diesem Tag alle Reihen durchgeschaut und dann ein 17- bis 18-jähriges Mädchen