Justiz und NS-Verbrechen Bd.XVII

Verfahren Nr.500 - 522 (1960 - 1961)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.511a LG Aurich 29.05.1961 JuNSV Bd.XVII S.421

 

Lfd.Nr.511a    LG Aurich    29.05.1961    JuNSV Bd.XVII S.439

 

sind auch "5502 von Stapo und SD Abschnitt Tilsit in Grenzstreifen liquidierte Kommunisten und Juden" enthalten, wobei allerdings zu bemerken ist, dass gegen die Zuverlässigkeit dieser Zahlenangabe nach den Ergebnissen des Ulmer Schwurgerichtsprozesses gegen Fischer-Schweder u.a. (Ks 2/57 129) und nach der Aussage des Zeugen Böhme gewisse Zweifel bestehen.

Da der sogenannte Stahlecker-Bericht einen umfassenden Überblick über die Tätigkeit der im baltischen Raum operierenden Einsatzgruppe A vermittelt, wird er nachstehend auszugsweise im Wortlaut wiedergegeben. Die angeführten Seitenzahlen entsprechen denen des Bandes XXXVII der Deutschen Ausgabe des Werkes über den Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg.

 

... 130

 

5. Die Massenexekutionen durch das Einsatzkommando "Stapo und SD Abschnitt Tilsit"

 

Vor Beginn des Russlandfeldzuges erhielt der Leiter der Stapostelle Tilsit, der Zeuge Böhme, drei Geheimerlasse des RSHA, die im folgenden mit A, B und C bezeichnet werden.

Der Erlass A betraf die Grenzsperre für den Fall "Barbarossa". Danach war die Grenze vom Beginn des Kampfes mit Russland an zu schliessen. Einzelreisende durften nur mit einem vom OKH ausgestellten Sonderausweis durchgelassen werden. Etwaige Versuche der Wehrmacht, festgenommene Zivilpersonen in das Reichsgebiet abzuschieben, waren zurückzuweisen.

Der Erlass B betraf die Organisation, Gliederung und Bereiche der Einsatzgruppen unter Namensnennung ihrer Führer; jedoch waren die Aufgaben der Einsatzgruppen nicht genau bezeichnet, insbesondere die "Sonderbehandlung" der Juden und Kommunisten nicht erwähnt.

Der Erlass C, der erst am Tage des Kriegsausbruchs zu öffnen war, handelte von der physischen Vernichtung der kommunistischen Funktionäre, der politischen Kommissare, der leitenden Personen der Mittelinstanzen und aller Juden. Die Einsatzkommandos sollten mit den Ortskommandanten Fühlung aufnehmen, gefährliche Personen von ihnen übernehmen und diese "weiterbehandeln", d.h. töten.

 

Am Sonnabend, dem 21.Juni 1941 fand in Tilsit eine Dienstbesprechung der Grenzpolizeipostenführer statt, an der auch der Angeklagte Schmidt teilnahm. Der Zeuge Böhme gab auf dieser Besprechung den Inhalt der Erlasse A und B, nicht aber den Inhalt des Erlasses C bekannt, von dem er selbst noch keine Kenntnis hatte. Er machte den Grenzpolizeiposten die Durchführung der Grenzsperre sowie die Benachrichtigung der Zollbehörden zur Pflicht.

Am Morgen des 22.Juni 1941, nach Beginn des Angriffs auf Russland, nahm der Zeuge Böhme befehlsgemäss von dem Inhalt des Erlasses C Kenntnis. Daraufhin verständigte er die Postenführer, dass sie festgenommene Zivilpersonen, die ihnen von der Wehrmacht übergeben würden, bei der nächsten Ortskommandantur abzuliefern hätten. Am Abend des 23.Juni 1941 (nicht des 22.Juni 1941, wie im Ulmer Schwurgerichtsurteil 131 festgestellt ist) fand sich der Führer der Einsatzgruppe A, SS-Brigadeführer Dr. Stahlecker, auf der Dienststelle der Stapo Tilsit ein. Er erteilte dem Zeugen Böhme unter Hinweis auf seine Sondervollmachten und auf den sogenannten Barbarossabefehl den Auftrag, mit den Angehörigen des Stapoabschnitts Tilsit in einem 25 km breiten Grenzstreifen, der ostwärts der damaligen Reichsgrenze lag, die "Sonderbehandlung" aller Juden einschliesslich der Frauen und Kinder und der kommunistenverdächtigen Litauer durchzuführen. Als der Zeuge Böhme einwandte, er habe dafür nicht genügend Leute, erwiderte Dr. Stahlecker, ihm ständen ja noch die Angehörigen des SD-Abschnitts Tilsit zur Verfügung, die natürlich mitmachen müssten. Ausserdem könne er sich an den Leiter der Schutzpolizei in Memel, den Polizeidirektor Fischer-Schweder, wenden; im übrigen sei es seine Sache, woher er die Leute nähme. Während dieses Gesprächs war zeitweise auch der Zeuge Kreuzmann zugegen.

Dr. Stahlecker liess dann noch den Leiter des SD-Abschnitts Tilsit, den Zeugen Hersmann,

 

129 Siehe Lfd.Nr.465.

130 Der in diesem Urteil wiedergegebene Auszug aus dem Stahlecker-Bericht ist identisch mit dem bereits im Urteil Lfd.Nr.465a abgedruckten Auszug; siehe Bd.XV S.37-45.

131 Siehe Lfd.Nr.465.