Justiz und NS-Verbrechen Bd.XVII

Verfahren Nr.500 - 522 (1960 - 1961)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.511a LG Aurich 29.05.1961 JuNSV Bd.XVII S.421

 

Lfd.Nr.511a    LG Aurich    29.05.1961    JuNSV Bd.XVII S.424

 

Der Angeklagte besuchte nun die Herderschule (Oberschule) in Heydekrug. Sein Vater übernahm nach dem Einmarsch der Franzosen auf Wunsch einer Abordnung der Bevölkerung den Posten des Landrates in Heydekrug und behielt dieses Amt bis zu seiner Absetzung durch die Litauer im Jahre 1923. Der Angeklagte erlebte als Schüler die Angliederung des Memellandes an Litauen, die Protestdemonstrationen der Bevölkerung und ihre gewaltsame Unterdrückung durch die Litauer. Nachdem er im Jahre 1928 die Reifeprüfung bestanden hatte, widmete er sich auf den Universitäten München, Königsberg, Tübingen und Freiburg dem Medizinstudium, das er 1934 mit dem Staatsexamen und der Promotion zum Dr.med. abschloss. Er trat im Jahre 1931 oder 1932 der Hochschulgruppe des "Stahlhelm" bei und erlebte 1933 die sogenannte "Machtübernahme" in Deutschland. Nach Abschluss seines Studiums kehrte er nach Heydekrug zurück. Sein Vater, der nach seiner Absetzung als Landrat wieder als Kreisarzt und Chefarzt des Kreiskrankenhauses in Heydekrug gearbeitet hatte, war im Jahre 1929 verstorben.

Der Angeklagte leistete nun seine Medizinalpraktikanten- und Assistenzarztzeit am Krankenhaus in Heydekrug ab. Nach dem Tode seines Grossvaters im Jahre 1937 erbte er das damals 3200 Morgen grosse Gut "Adlig-Heydekrug". Daraufhin gab er seinen Arztberuf auf und widmete sich ganz der Bewirtschaftung des Gutes. Als nach der "Reichskristallnacht" im November 1938 die meisten Juden, darunter auch die Assistenzärzte des Krankenhauses, das Memelland verliessen, arbeitete er jedoch im Winter 1938/1939 noch einmal vorübergehend als Assistenzarzt im Kreiskrankenhaus Heydekrug, um dem entstandenen Notstand abzuhelfen.

 

Im Januar 1939 stellte der Angeklagte Dr. Scheu auf Anregung des Führers der deutschen Volksgruppe, des Tierarztes Dr. Neumann, eine berittene Staffel des MOD in Heydekrug auf. Die Staffel wurde nach dem Anschluss des Memellandes an das Reichsgebiet als Sturm 2 der Reiterstandarte 20 in die SS überführt. Der Angeklagte wurde am 20.April 1939 in der SS vereidigt, zunächst als Oberscharführer übernommen und bald danach zum Untersturmführer befördert. Nachdem er im April 1939 der NSDAP beigetreten war, wurden ihm daneben noch weitere Parteifunktionen als Ortsbauernführer, Hauptabteilungsleiter bei der Kreisbauernschaft Heydekrug und ähnliches übertragen. Ausserdem war er im Vorstand mehrerer ländlicher Genossenschaften und der Raiffeisenbank, in der Landwacht, in der Feuerwehr, als Beisitzer im Pachtsenat des Oberlandesgerichts Königsberg und als Hegeringleiter 118 tätig.

 

Bei Kriegsausbruch wurde der Angeklagte zunächst uk-gestellt. Er wurde erst im Herbst 1944 zur Waffen-SS eingezogen. Nach dreimonatiger Grundausbildung in Breslau-Lissa kam er zur Frontbewährung zum 2. Panzergrenadierregiment der SS-Leibstandarte nach Ungarn, wo er verwundet wurde (Oberarmdurchschuss) und an wolhynischem Fieber erkrankte. Nach Aufenthalten in den Lazaretten Rosenheim und Gera (Thüringen) geriet er im Frühjahr 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Im Lager Bad Kreuznach erkrankte er an Lungenödem, Lungenentzündung und Nierenbeckenentzündung. Er wurde deshalb in das Kriegsgefangenenlazarett in Bad Homburg verlegt und dort nach seiner Genesung im Frühjahr 1946 bis zur Auflösung des Lazaretts als Assistenz- und später als Oberarzt verwendet.

 

Der Angeklagte Dr. Scheu hat im Frühjahr 1942 geheiratet; aus der Ehe sind zwei Söhne im Alter von 17 und 15 Jahren hervorgegangen.

Seine Ehefrau war nach dem Kriege nach Friedrichsdorf bei Bad Homburg gezogen. Der Angeklagte liess sich nach der Auflösung des Lazaretts ebenfalls dort nieder und lebte zunächst vom Verkauf der zum grossen Teil geretteten väterlichen Briefmarkensammlung. Im Jahre 1948 pachtete er ein Hausgrundstück auf der Nordseeinsel Borkum, um dort gemeinsam mit seiner Ehefrau, einer ausgebildeten Kinderschwester, ein Kinderheim zu betreiben. Später erwarb er das Haus durch einen Kauf auf Rentenbasis als Eigentum. Dr. Scheu ist ferner Hilfsarzt beim Gesundheitsamt Leer - Nebenstelle Borkum -, leitender Arzt des Kurmittelhauses und Chefarzt des Stadtkrankenhauses in Borkum.

Der Angeklagte Dr. Scheu ist bisher nicht bestraft. Er wurde am 17.Mai 1960 festgenommen und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft.

 

118 Hegering = kleiner Jagdbezirk.