Justiz und NS-Verbrechen Bd.XVII

Verfahren Nr.500 - 522 (1960 - 1961)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.511a LG Aurich 29.05.1961 JuNSV Bd.XVII S.421

 

Lfd.Nr.511a    LG Aurich    29.05.1961    JuNSV Bd.XVII S.423

 

während ein vom litauischen Staatspräsidenten ernannter Gouverneur die Interessen Litauens vertrat. Die Wahlen zum Landtag ergaben stets eine grosse deutsche Mehrheit (meist 24 deutsche und 5 litauische Abgeordnete). Die starke deutsche Opposition gegen die litauischen Unterdrückungsmassnahmen führte dazu, dass Litauen im Jahre 1925 den Kriegszustand über das Memelland verhängte. Die vollziehende Gewalt wurde dem Kriegskommandanten in Memel übertragen. Versammlungen unter freiem Himmel waren verboten, sonstige Versammlungen durften nur mit Genehmigung der politischen Polizei und in Gegenwart eines Polizeibeamten stattfinden.

In der Folgezeit bildeten sich im Memelland neben den schon bestehenden deutschen Parteien zwei miteinander rivalisierende nationalsozialistische Parteien, die "Christlich-soziale Arbeitsgemeinschaft" (CSA) unter Führung des Pfarrers Freiherr von Sass und die "Sozialistische Volksgemeinschaft" (Sovog) unter Führung des Tierarztes Dr. Neumann. Beide Parteien wurden im Zusammenhang mit dem Kownoer Prozess, in dem Freiherr von Sass und Dr. Neumann sowie zahlreiche ihrer Anhänger zu hohen Strafen verurteilt wurden, verboten und aufgelöst, während die allgemeine Organisation der deutschen Volksgruppe, der Memelländische Kulturbund, weiterbestand und allmählich immer stärker unter nationalsozialistischen Einfluss geriet. Als Litauen im Herbst 1938 unter deutschem Druck den Kriegszustand aufhob, wurden aus den Mitgliedern des Kulturbundes nach reichsdeutschem Vorbild verschiedene Sonderformationen aufgestellt, so u.a. der Memeldeutsche Ordnungsdienst (MOD) als Gegenstück zur SS und die Sicherheitsabteilung als Gegenstück zur reichsdeutschen SA. Die Mitglieder des MOD trugen als Uniform braunes Hemd, schwarze Schibluse, schwarze Stiefelhose, Schimütze und als Abzeichen eine Elchschaufel.

 

Am 22.März 1939 wurde das Memelland auf Grund eines Abkommens mit Litauen wieder Bestandteil des Deutschen Reiches (Gesetz über die Wiedervereinigung des Memellandes mit dem Deutschen Reich vom 23.März 1939, RGBl. I S.559). Es wurde in das Land Preussen und in die Provinz Ostpreussen eingegliedert und trat zu dem Regierungsbezirk Gumbinnen. Die Memelländer, die durch die Wegnahme des Memellandes im Jahre 1924 die deutsche Staatsangehörigkeit verloren hatten, wurden mit dem 22.März 1939 wieder deutsche Staatsangehörige, wenn sie an diesem Tage ihren Wohnsitz im Memelland oder im Deutschen Reich hatten. Am 1.Mai 1939 traten im Memelland das gesamte Reichsrecht und das gesamte preussische Landesrecht in Kraft. Die Mitglieder des Memelländischen Ordnungsdienstes (MOD) wurden geschlossen in die SS übernommen, die Sicherheitsabteilungen wurden geschlossen in die SA überführt. Dagegen wurden die Mitglieder des Memelländischen Kulturbundes nicht in ihrer Gesamtheit in die NSDAP aufgenommen; sie konnten vielmehr nur durch Einzelaufnahme Parteimitglieder werden.

Im Herbst 1944 wurde das Memelland von sowjetischen Truppen besetzt. Nach der Niederlage Deutschlands wurde Ostpreussen nördlich der Linie Braunsberg - Goldap, also auch das Memelland, auf Grund des Potsdamer Abkommens unter sowjetische Verwaltung gestellt und damit praktisch in die Sowjetunion eingegliedert.

 

III. Feststellungen zur Person der Angeklagten

 

1. Angeklagter Dr. Scheu

 

Der Angeklagte Dr. Werner Scheu wurde am 30.März 1910 in Heydekrug (Memel) als Sohn des Kreisarztes Dr. Erich Scheu und seiner Ehefrau Helene, geb. Hau., geboren. Seine Vorfahren waren Schiffsreeder in Memel gewesen. Sein Grossvater, der Generallandschaftsdirektor Dr. Hugo Scheu, hatte das Familiengut "Adlig-Heydekrug" erworben. Der Angeklagte hatte zwei Brüder (geboren 1912 und 1925), der ältere ist heute Oberforstmeister in Hamburg, der jüngere ist im zweiten Weltkrieg gefallen.

Nach Beginn des ersten Weltkrieges flüchtete die Familie Scheu vor der russischen Armee nach Amberg/Oberpfalz, wo der Vater des Angeklagten als Garnisonsarzt tätig war. Der Angeklagte besuchte in Amberg die Volksschule. Im Jahre 1918 kehrte die Familie nach Heydekrug zurück, flüchtete aber bald wieder nach Königsberg, weil in der Nähe Kämpfe der Roten Armee gegen Litauer und "weisse" Russen stattfanden. Im April 1919 kehrte sie endgültig nach Heydekrug zurück.