Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXV

Verfahren Nr.747 - 757 (1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.756a LG Saarbrücken 29.06.1971 JuNSV Bd.XXXV S.389

 

Lfd.Nr.756a    LG Saarbrücken    29.06.1971    JuNSV Bd.XXXV S.418

 

Gericht erhielt häufig auf Fragen an Zeugen nach konkreten sonstigen Ereignissen, die zeitlich mit ihrem Aufenthalt in den DAW zusammengefallen sein müssen, die glaubhafte Antwort, ihr Ansinnen habe sich allein auf das eigene Überleben gerichtet. Vorgänge um sie herum nahmen viele Zeugen, solange sie nicht unmittelbar persönlich tangiert waren, aus diesem Versuch der Abkapselung heraus und wegen ihres Bemühens, sich von Orten, an denen SS-Leute gegenüber Juden Massregeln ergriffen, möglichst weit entfernt zu halten, nicht wahr. Überdies ist auch fast die gesamte Belegschaft der DAW bei der Liquidierung des ZAL umgebracht worden, so dass als Zeugen nur diejenigen zur Verfügung stehen, denen es vorher gelungen war zu entfliehen.

 

Von den 40 bis 50 jüdischen sogenannten Funktionshäftlingen der DAW, die einen grösseren Überblick auf Grund ihres Wirkungskreises hatten, konnte in der Hauptverhandlung lediglich die Zeugin Zel. vernommen werden. Ausser ihr überlebte von den Führungskräften nur noch die Vorarbeiterin in der Schneiderei Charlotte Ha. Sie war etwa ab Herbst 1942 unter diesem Namen in den DAW und ist im Sommer 1943 geflohen. Sie wohnt unter dem Namen Gisela Urb. seit 1948 in Israel. Sie hat am 18.Mai 1971 ein Attest der Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie Dr. Ivette Gro. aus Tel Aviv eingereicht, wonach sie auf Grund ihres Gesundheitszustandes nicht in der Lage sei, vor irgendeinem Gericht auszusagen. Sie leidet danach an schwerer Psychoneurose, Konzentrationsmängeln, Persönlichkeitsstörungen, Verfolgungswahn, Enzephalopathie und beschränktem Erinnerungsvermögen, so dass es ihr fast unmöglich sei, nach kurzer Zeit auf etwas zuvor Gesagtes zurückzukommen. Dieses ärztliche Attest deckt sich im wesentlichen mit zwei ärztlichen Gutachten, die aus ihren Entschädigungsakten verlesen wurden. Somit konnte wegen Unerreichbarkeit der Zeugin die Aussage vor der israelischen Polizei in Tel Aviv vom 11.Mai 1971 verlesen werden. Darin gab sie an, das Leben in den DAW sei grausam gewesen; sie könne sich heute nicht mehr erinnern, ob Selektionen in den DAW durchgeführt worden seien und ob jemand in den DAW ermordet worden sei. Weil ihre Schwester Käthe Ha., die, um sich zu retten, zu dem Angeklagten persönliche Beziehungen unterhalten habe, umgekommen sei, wolle sie sich heute nicht mehr an die damaligen Vorgänge erinnern, sondern habe sich bemüht, sie zu vergessen. Hinzu kommt, dass Gisela Urb., geborene Ha., in ihrem Wiedergutmachungsantrag ihren Aufenthalt in Lemberg gänzlich unerwähnt liess, vielmehr in ihrem Entschädigungsantrag unter Eid angab, in anderen Lagern gewesen zu sein. Aus allen diesen Umständen erhellt nach Überzeugung des Gerichts, dass die Zeugin Urb. bemüht ist, das Bekanntwerden ihrer damaligen Funktionen in den DAW zu verhindern, um nicht heute dem Vorwurf ausgesetzt zu sein, sie habe als Jüdin mit den SS-Angehörigen kollaboriert, und bemüht ist, nicht Gefahr zu laufen, ihren Wiedergutmachungsanspruch wegen falscher Angaben zu verlieren. Für die Wahrheitsfindung in diesem Verfahren vermag demnach die knappe Aussage dieser Zeugin vor der Polizei nichts beizutragen. Ihre Vernehmung im Wege der Rechtshilfe vor einem israelischen Gericht oder gar in der Hauptverhandlung ist unmöglich, da das von ihr über einen von ihr gewählten Rechtsanwalt eingereichte ärztliche Attest ihre Vernehmungsunfähigkeit bescheinigt. Überdies kommt hinzu, dass zu den Fällen, in denen der Angeklagte verurteilt wurde, ohnehin von der Zeugin Ha./Urb. keine Aufklärung zu erwarten ist, da die Tötung des Dr. Luchs (Fall 1 der Anklageschrift) sich weit entfernt von ihrem Tätigkeitsbereich zutrug, die Fälle 20 und 22 der Anklageschrift sich zudem auch zeitlich lange vor dem Aufenthalt dieser Zeugin in den DAW ereigneten.

 

Schliesslich sei noch klargestellt, dass auf Antrag der Verteidigung eine Reihe von Zeugen zu dem Beweisthema vernommen wurden, dass "in den DAW keine Frauenappelle mit Selektionen und Ermordungen sowie sonstige Schikanen also Appelle, die über das Antreten in der Habachtstellung mit dem Ziel der Zählung und Ausweiskontrolle hinausgingen, stattgefunden haben" (vgl. Antrag der Verteidigung vom 15.3.1971, Bl.422 des Protokolls). Im ZAL wurden sicherlich häufig solche Frauenappelle abgehalten. Es spricht nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung einiges dafür, dass in den DAW ebenfalls, wenn auch nicht regelmässig, aber doch manchmal vor dem Arbeitsbeginn am Morgen Frauenappelle in dem vorstehend