Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXV

Verfahren Nr.747 - 757 (1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.756a LG Saarbrücken 29.06.1971 JuNSV Bd.XXXV S.389

 

Lfd.Nr.756a    LG Saarbrücken    29.06.1971    JuNSV Bd.XXXV S.406

 

denkbar, dass ein weniger gut informierter Häftling, obwohl er den ganzen Tag auf dem Gelände des ZAL blieb, bedingt durch die den Unterkunftsbereich umfassenden Zäune des ZAL den Eindruck gewinnen konnte, er habe das ZAL verlassen und sich auf DAW-Gelände begeben. In diesem Zusammenhang war auch das Augenmerk darauf zu richten, ob die Zeugen nicht unbewusst heute die Person Gebauer und Willhaus, beide höhere SS-Offiziere, die zudem in etwa von gleicher Statur waren, verwechseln.

 

Bei der Prüfung der Erinnerungszuverlässigkeit der jüdischen Zeugen war ferner dem Umstand Rechnung zu tragen, dass diese sich während ihrer damaligen Inhaftierung in einer seelischen und körperlichen Ausnahmesituation befanden und extremen Belastungen ausgesetzt waren. Allein schon die Auswirkungen der bei den Häftlingen infolge Überstrapazierens vorhandenen Müdigkeit oder des durch unzulängliche Ernährung bedingten Hungers können verzögerte Wahrnehmung, schwache Aufmerksamkeit und demgemäss labiles Erinnerungsvermögen zur Folge haben. Noch weit grössere Bedeutung gewinnt der Umstand, dass die Anteilnahme der Häftlinge an der Aussenwelt mit der Länge ihrer Inhaftierung abnahm. Viele Lagerinsassen konzentrierten sich damals, wie sie als Zeugen glaubhaft schilderten, allein auf ihr eigenes Überleben. Während in der ersten Zeit ihres Aufenthalts in DAW und ZAL ihre Sinne noch geschärft waren und sie besondere Vorkommnisse, demnach auch Ausschreitungen gegenüber jüdischen Mithäftlingen genau registrierten, bemächtigte sich ihrer mit der Zeit eine Apathie gegenüber Vorfällen, die sie nicht unmittelbar persönlich betrafen. Das Angstempfinden eines Häftlings kann demnach einerseits zu erhöhter Aufmerksamkeit für ein sich in seiner Nähe abspielenden Vorkommnis geführt haben. Deshalb kann ein solches Ereignis, wie grundsätzlich mit positivem oder negativem Affekt besetzte Erlebnisse, von einem Zeugen besser wahrgenommen und insbesondere auch nachdrücklicher in Erinnerung behalten worden sein als affektiv neutrale. Das Angstgefühl und das Entsetzen über sich im Wahrnehmungsbereich eines Zeugen abspielende Vorfälle kann aber andererseits auch je nach Persönlichkeitsstruktur und Gemütszustand eines Zeugen zu einer Abkapselung von der Umwelt geführt haben, wenn ein Zeuge bereits einen Zustand der Gleichgültigkeit und Abgestumpftheit erreicht hatte, in dem er auch schreckliche Vorfälle in seinem Wahrnehmungsbereich nicht mehr registrierte oder zumindest sie nicht mehr in sein Bewusstsein eindringen liess. Verbindliche Regeln über die Auswirkungen solcher Gemütsbewegungen wie Angst, Schock, Ohnmacht gegenüber den sich rundum abspielenden Ereignissen, Verwirrtheit lassen sich demnach nicht aufstellen. Vielmehr war jeweils im Einzelfall bei der behaupteten Beobachtung eines Vorfalls durch einen Zeugen eine spezielle Prüfung des Aussagewertes unter Berücksichtigung der genannten Gesichtspunkte vorzunehmen. Machen Zeugen, wie es einige bekundeten, noch heute Angstträume durch - bedingt durch ihre damaligen schrecklichen Erlebnisse - so schliesst dies zwar ihre Aussagetüchtigkeit nicht generell aus, verpflichtet aber zu erhöhter Vorsicht bei der Übernahme ihrer Schilderungen.

 

Das Gericht war sich bei den Feststellungen stets der Problematik einer Zeugenaussage über fast 30 Jahre zurückliegende Vorkommnisse bewusst. Auch wenn ein Ereignis zur damaligen Zeit vollständig und richtig wahrgenommen worden ist, besteht die Gefahr, dass die Erinnerungsbilder sich zwischenzeitlich mehr und mehr zersetzt haben. Insbesondere Nebenpunkte eines Vorfalls und das Randgeschehen dürften mit der Zeit verblasst sein, was dazu führte, dass die Vereinfachung der Erinnerung um so grösser wurde, je mehr Zeit verstrichen ist. Auffrischende Wirkung konnte demgegenüber bei zahlreichen Zeugen der oft schon vor etwa 10 Jahren vorgenommenen erstmaligen richterlichen, konsularischen oder polizeilichen Vernehmung zu den Vorkommnissen in den DAW zukommen. Die Zeugen befassten sich dabei gedächtnismässig mit ihren Erlebnissen und mussten diese in Worte kleiden. Ganz allgemein ist aber bei den Zeugen davon auszugehen, dass sich die Aussagegenauigkeit mehr und mehr in den verflossenen fast 30 Jahren verringert hat. Es besteht die Gefahr, dass ein Zeuge in seinem Gedächtnis nur noch bruchstückhaft Vorhandenes wiederherzustellen sucht, wobei aber eine Färbung und teilweise Umstrukturierung erfolgen kann. Mehrere Faktoren können dabei zu einer Verschiebung und Verfälschung des Erinnerungsbildes geführt haben: Dabei