Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLIX

Verfahren Nr.920 - 924 (2002 - 2012), 880 (Erratum), 950 - 959 (1945 - 1960; Nachtragsverfahren)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.924 LG München II 12.05.2011 JuNSV Bd.XLIX S.227

 

Lfd.Nr.924    LG München II    12.05.2011    JuNSV Bd.XLIX S.377

 

Justizministeriums entschied, dass der Einstellungsentscheidung der Anklagekammer eines französischen Appellationsgerichtshofs aus Mangel an Beweisen 329 lediglich eine begrenzte Rechtskraft zukomme und sie daher einer rechtskräftigen Aburteilung nicht gleichstehe 330.

 

Der Einholung einer Entscheidung des EuGH über die Auslegung des Art.54 SDÜ bedurfte es nicht. Der EuGH hat bereits in seiner Entscheidung vom 11.Februar 2003 331 die Bestimmung dahin ausgelegt, dass sie auch auf andere Entscheidungen als Urteile und Gerichtsentscheidungen anwendbar ist. Im Übrigen richtet sich die Verbindlichkeit nach dem Recht des erstverfolgenden Staates, weshalb sich die Kammer auf die eingeholte Auskunft der polnischen Justizbehörde stützen kann 332.

 

4. Verfahren in Italien

 

Keine Bindungswirkung nach Art.54 SDÜ hat auch das von der Staatsanwaltschaft in Triest geführte Verfahren gegen den Angeklagten, weil Gegenstand dort nicht dieselbe Tat im Sinne des Art.54 SDÜ wie die im vorliegenden Verfahren abgeurteilten Taten ist.

 

Das Verfahren betraf eine vermutete Tätigkeit des Angeklagten als Wachmann derjenigen Einheiten, die im Jahr 1943 zusammen mit Odilo Globocnik nach Triest versetzt worden sind. Die Einstellungsentscheidung des Ermittlungsrichters des Landgerichts Triest vom 29.April 1992 erfolgte mit der Begründung, dass keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Angeklagte jener "Ivan" ist, der im Konzentrationslager "Risiera di San Sabbia" in Triest Greueltaten an Häftlingen begangen haben soll.

 

5. EU-Vertrag

 

Art.50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union v. 12.12.2007 333, wonach niemand in einem Mitgliedstaat wegen einer Straftat verfolgt oder bestraft werden darf, deretwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, steht der Aburteilung im Hinblick auf die in Polen und in Italien verfügten oder beschlossenen Verfahrenseinstellungen nicht entgegen. Der Angeklagte wurde weder in Polen noch in Italien wegen der Taten, deretwegen er hier verurteilt wird, rechtskräftig entlastet. Insofern gelten für die Auslegung der Begriffe die gleichen Grundsätze wie für Art.54 SDÜ 334.

 

6. UNO-Beschluss

 

Die Resolution Nr.3074, welche die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 3.Dezember 1973 erlassen hat, begründet allenfalls Verpflichtungen der Staaten untereinander, demjenigen Staat, auf dessen Gebiet Kriegsverbrechen begangen worden sind, den Vorrang bei der Verfolgung solcher Taten einzuräumen. Ob dies ein Verfahrenshindernis darstellen

 

329 "Ordonnance de non-lieu par des raisons de fait".

330 Einzelheiten zum Fall und zu den französischen Rechtsvorschriften: Kühne, ne bis in idem in den Schengen-Vertragsstaaten, JZ 1998, 876 (877 ff.)

331 C-187/01, C-385/01, NJW 2003, 1173 (1171 f. Tz.34, 38).

332 Vgl. BGH v. 19.05.1997 - 5 StR 596/96, NStZ 1998, 149 (152 f.).

333 ABl. Nr.C 303 S.1.

334 Burchard/Brodewski, Art.50 Charta der Grundrechte der Europäischen Union - das europäische ne bis in idem nach dem Vertrag von Lissabon, StraFo 2010, 179 (181).