Justiz und NS-Verbrechen Bd.XX

Verfahren Nr.569 - 589 (1964 - 1965)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.579b BGH 24.08.1965 JuNSV Bd.XX S.374

 

Lfd.Nr.579b    BGH    24.08.1965    JuNSV Bd.XX S.376

 

Richtig ist, dass das neue Urteil bei der Wiedergabe der - insoweit nicht widerlegten - Einlassung des Angeklagten Dr. Scheu Tatsachen erwähnt, die er Struve mitteilte, als er dessen Billigung erbat (vgl. neues Urteil S.330), während das frühere Urteil solche Tatsachen nicht angab.

Was das neue Urteil hierzu sagt, versteht sich indessen ebenso von selbst wie der Umstand, dass das, was das frühere Urteil "Billigung" nennt, in Wahrheit ein Befehl war. Dass Struve, der den Befehl erteilte, Führer der SS-Reiterstandarte 20, und Dr. Scheu, an den der Befehl sich richtete, Führer des zu der Standarte gehörenden Heydekruger Reitersturms 2/20 war, war schon im früheren Urteil festgestellt worden (vgl. früheres Urteil S.431). Das gleiche gilt für die Tatsache, dass von den SS-Angehörigen, die an der Exekution teilnahmen, nur ein Teil dem Reitersturm 2/20 angehörte, der andere Teil dagegen einem SS-Sturmbann, der als solcher dem Angeklagten Dr. Scheu nicht unterstand (vgl. früheres Urteil S.431, 444).

Richtig ist allerdings, dass das neue Urteil erstmalig feststellt, der Angeklagte Struve habe vor dem Beginn der Exekution den beteiligten SS-Männern bekanntgegeben, dass die Juden auf Befehl des Führers erschossen würden. Daraus folgt indessen im Gegensatz zur Meinung der Verteidigung nicht, dass Struve zwar nach den Feststellungen des neuen, nicht aber nach denen des früheren Urteils verantwortlicher Leiter der Exekution war. Schon das frühere Urteil sagte, dass Struve als ranghöchster SS-Führer auf dem Erschiessungsplatz die Leitung der Exekution übernommen hatte (vgl. früheres Urteil S.466).

 

Zu Bedenken könnte allenfalls folgendes Anlass geben:

Das frühere Urteil erwähnte die damalige Einlassung des Angeklagten Struve, er habe einen Befehl des SS-Oberabschnittes Nordost über die Erschiessungsaktion erhalten. Es stellt dazu fest, dass Struve weder einen solchen Befehl erhalten, noch an das Vorhandensein eines solchen Befehls geglaubt hat (früheres Urteil S.463). Das neue Urteil stellt fest, dass die in Rede stehende SS-Reiterstandarte unmittelbar dem Reiterinspekteur beim SS-Oberabschnitt Nordost (SS-Standartenführer Bösel) unterstand (vgl. neues Urteil S.294) und erwähnt als - insoweit unwiderlegte - Einlassung des Angeklagten Struve, ihm, Struve, sei, bevor er Dr. Scheu mitteilte, dass sie den Befehl der Gestapo befolgen müssten, bei einem Telefongespräch mit Bösel von diesem erklärt worden, den Anordnungen der Gestapo sei Folge zu leisten, die Sache müsse durchgeführt werden, und es seien Leute abzustellen. Struve habe dann Dr. Scheu entsprechend unterrichtet (vgl. neues Urteil S.331).

Der blosse Umstand, dass die Angeklagten Dr. Scheu und Struve den Befehl der Gestapo erst auf Befehl des Reiterinspekteurs Bösel befolgten, rechtfertigt indessen keine abweichende Beantwortung der Frage nach der Mittäterschaft der Angeklagten, weil die Mitherrschaft der Angeklagten über das Tatgeschehen, die ihre Mittäterschaft begründete, sich aus Handlungen und Unterlassungen der Angeklagten ergibt, die weder durch den Befehl Bösels noch durch den Befehl der Gestapo geboten waren.

Zu diesen Handlungen und Unterlassungen gehört, dass der Angeklagte Dr. Scheu sich selbst bei der Einteilung der Juden in Arbeitsfähige und (zu erschiessende) Arbeitsunfähige in der Kaserne, bei der er der höchste auf dem Kasernenhof anwesende SS-Führer war (neues Urteil S.324), massgeblich beteiligte, zumindest die beiden Gruppen überprüfte und noch einzelne Leute von der einen auf die andere Seite schickte (vgl. neues Urteil S.335). Eine solche Handlungsweise war durch die genannten Befehle nicht geboten. Sie zeigt, dass der Angeklagte von sich aus auf Massnahmen Einfluss nahm, die eine Entscheidung über Tod und Leben der Betroffenen bedeutete. Ob er auch Juden, die sich bei der Gruppe der Arbeitsfähigen befanden, der Gruppe der Arbeitsunfähigen zugeteilt hat, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Entscheidend ist, dass er sich schon hier von sich aus an der Aktion in einer Weise beteiligte, die ihm eine solche Zuteilung jedenfalls möglich machte.

 

Zu jenen Handlungen und Unterlassungen gehört ferner, dass die Angeklagten Struve und Dr. Scheu, die auf dem Erschiessungsplatz die ranghöchsten SS-Führer waren, die Leitung der Exekution übernahmen, es duldeten, dass ihnen unterstellte SS-Männer sich eigenhändig an der Exekution beteiligten, und vor allem, dass Struve und Dr. Scheu sogar selbst eigenhändig Juden erschossen (vgl. neues Urteil S.321 f., 328, 336 f.).