Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam
Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.371
gemildert bzw. von Strafe abgesehen werden kann, wenn die Schuld des Untergebenen gering ist. Das Schwurgericht hat sich jedoch ausserstande gesehen, von diesen Bestimmungen Gebrauch zu machen. Beide Vorschriften erfordern eine geringe Schuld des Täters. Davon kann aber angesichts des Ausmasses der Massenexekution und des Umfanges der Beteiligung der beiden Angeklagten keine Rede sein. Eine Unterschreitung des gewöhnlichen Strafrahmens ist daher nicht möglich.
2. Die Strafzumessung
Um die Schuld der Angeklagten gerecht beurteilen zu können, ist es unerlässlich den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Geschehnisse und seine Auswirkungen auf die Angeklagten zu berücksichtigen.
Beide Angeklagten waren wie alle Deutsche jahrelang durch die nationalsozialistische Erziehung und Propaganda, vor allem auch durch die Judenhetze, beeinflusst worden. Sie waren der nationalsozialistischen Ideologie erlegen und eifrige Anhänger des Regimes geworden. Die besondere Situation an der deutsch-litauischen Grenze mag ihre feindselige Einstellung gegenüber dem Judentum noch verstärkt haben.
Im Sommer 1941 befand sich das nationalsozialistische Deutschland auf dem Höhepunkt seiner Macht. Nach den grossen aussenpolitischen Erfolgen in den Jahren 1938 und 1939, den siegreichen Feldzügen in Polen, Norwegen, Frankreich und auf dem Balkan und den Anfangserfolgen der Wehrmacht in Russland kannte die Verherrlichung Adolf Hitlers bei der Masse des deutschen Volkes kaum noch Grenzen. Nur ein geringer Teil des Volkes war zweifelnd und unentschlossen, nur der geringste Teil stand im Widerstand. In dieser Gefangennahme und Verstrickung des deutschen Volkes durch den Nationalsozialismus sahen die Menschen zwar auch die Schwächen und die Ungerechtigkeiten des damaligen Regimes, nahmen sie aber meist im blinden Vertrauen auf die "Führung" hin, ohne sich gegen erkanntes Unrecht aufzulehnen.
Diese allgemeine Situation ist zwar keine Entschuldigung, aber immerhin eine Erklärung für das Verhalten der Angeklagten.
Die ungewöhnlichen Zeitumstände und die starke Beeinflussung der Angeklagten durch die nationalsozialistische Ideologie und Propaganda können zwar strafmildernd berücksichtigt werden, ändern aber nichts daran, dass Dr. Scheu und Struve, vor die Entscheidung gestellt, sich an einem verabscheuungswürdigen Verbrechen zu beteiligen oder Würde und Menschlichkeit zu bewahren, moralisch versagt und dadurch die Schuld am Tod vieler Menschen auf sich geladen haben.
Das Fehlverhalten der Angeklagten Dr. Scheu und Struve beginnt schon sehr früh. Beide haben sich gleich nach Beginn des Russlandfeldzuges freiwillig an den Aktionen zur Beschaffung jüdischer Arbeitskräfte beteiligt, die Heydekruger SS in diese Aktion hineingezogen und dadurch bei den ihnen unterstellten SS-Männern den unsinnigen Judenhass noch weiter geschürt.
Dr. Scheu hat zumindest stillschweigend geduldet, dass bei diesen Aktionen die betroffenen Juden schwersten Demütigungen ausgesetzt waren. Man denke hier nur an die Verbrennung der heiligen Bücher und Kultgeräte in Sveksna, an die stundenlangen Sportübungen im oberen Synagogenraum und das Abschneiden der halben Bärte und Schnurrbärte. Dr. Scheu hat ferner bei dem jahrelangen Einsatz jüdischer Zwangsarbeiter in Kreis Heydekrug eine führende Rolle gespielt und dabei auch eigennützigen Erwägungen Raum gegeben, indem er Juden auf seinem Gut und auf seiner Ziegelei beschäftigte.
Beide Angeklagten haben sich bedenkenlos an dem grauenvollen Massenmord bei Naumiestis beteiligt und dabei ohne Zwang eine führende Rolle übernommen. Wenn sie auch (angeblich) einen Befehl der Gestapo erhalten hatten, sich mit ihren SS-Männern an "Absperr- und Hilfsmassnahmen" zu beteiligen, so war der Befehlsdruck, unter dem sie während ihrer Anwesenheit am Erschiessungsplatz standen, doch denkbar gering. Das ist bereits bei der Frage des Befehlsnotstandes erörtert worden. Obwohl sich den Angeklagten genügend Möglichkeiten boten, sich selbst und die ihnen unterstellten SS-Männer aus der Aktion herauszuhalten, haben sie nicht einmal einen Versuch in dieser Richtung gemacht, sondern sich mit einer Aktivität in das Geschehen eingeschaltet, die kaum zu überbieten ist. Man fragt sich unwillkürlich, was die Angeklagten