Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXVI

Verfahren Nr.758 - 767 (1971 - 1972)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.758 LG Kiel 02.08.1971 JuNSV Bd.XXXVI S.5

 

Lfd.Nr.758    LG Kiel    02.08.1971    JuNSV Bd.XXXVI S.37

 

3.244 Generalstaatsanwalt Hanssen

 

Der Vermerk des Zeugen Egg. spricht davon, dass der Generalstaatsanwalt Hanssen die Gefangenen von Sonnenburg einem Kommando der geheimen Staatspolizei übergeben habe. Auch eine solche Anordnung wäre durch den zweiten Führererlass gedeckt, wenn davon ausgegangen wird, dass der Auslösung dieses Befehls eine Weisung des Reichsverteidigungskommissars an den Generalstaatsanwalt vorangegangen ist (IV. 1. des Führererlasses vom 20.9.1944). Hiernach konnte der Reichsverteidigungskommissar für das Operationsgebiet in Ausübung der vollziehenden Gewalt sämtlichen Dienststellen des Staates Weisungen erteilen. Für konkrete Weisungen und Anordnungen des Reichsverteidigungskommissars an den Generalstaatsanwalt oder an eine andere mit den Vorgängen im Fall Sonnenburg befasste Person haben sich ausser dem Vermerk des Zeugen Egg. Hinweise nicht auffinden lassen.

 

3.245 Feststellungen

 

Trotz der hier aufgezeigten Zuständigkeiten des Gauleiters Stürtz, des Reichsführers SS Heinrich Himmler, des Inspekteurs Dr. Fischer und des Generalstaatsanwalts Hanssen, die mit den in dem Vermerk des Zeugen Egg. niedergelegten Tätigkeiten übereinstimmen, ist das Schwurgericht nicht zu der Überzeugung gelangt, dass dieser Vermerk alles das, aber auch nur das, was Hanssen gesagt hat, wiedergibt. In Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Prof.Dr. Kra. muss das Verwenden von Ausführungszeichen in dem Vermerk den unrichtigen Eindruck erwecken, dass der Vermerk wörtlich wiedergibt, was Hanssen zu Egg. in der Nacht vor dem Diktat des Vermerks gesagt haben soll. Berechtigte Zweifel daran ergeben sich bereits aus der heutigen Aussage des Zeugen Egg. Dieser berichtet nämlich davon, dass Hanssen nicht bereit gewesen ist, alle Fragen und Nachfragen Egg.s - sie sind im Vermerk nicht ersichtlich - zu beantworten. Egg. hatte den Eindruck, Hanssen habe ihm gleichsam eine Abfuhr erteilt. Im erkennbaren Gegensatz dazu steht die Prägnanz und Vollständigkeit des Inhalts des Vermerks. Ausserdem ist der Vermerk nicht sogleich nach dem Ferngespräch sondern erst am nächsten Morgen diktiert worden, so dass auch aus diesem Grund Diskrepanzen zwischen Gesprächsinhalt und Vermerk nicht ausgeschlossen erscheinen. Schliesslich konnte sich der Zeuge Egg. wegen des langen Zeitablaufs an Einzelheiten nicht mehr erinnern und gab nur an, dass Hanssen ihm das gesagt haben müsse.

 

Es haben sich auch keine Beweismittel dafür finden lassen, dass Hanssen dem Zeugen Egg. nur Informationen erteilte, die in vollem Umfange den Tatsachen entsprachen. Berechtigte Zweifel hierüber ergeben sich schon aus der von Hanssen genannten Zahl von 600 Gefangenen, die einem Kommando der geheimen Staatspolizei übergeben worden sein sollen. Wenngleich das Schwurgericht annimmt, dass die Zahl von 600 getöteten Gefangenen, die nach Abwägung aller Umstände geringstmögliche Anzahl ist - was später darzulegen sein wird -, gibt es viele Hinweise dafür, dass die Anzahl der Getöteten um 100-200 höher gelegen hat. Die Beweisaufnahme hat auch ohne Zweifel ergeben, dass die 56 weiblichen polnischen Gefangenen aus dem Treck Wronke nicht der Polizei übergeben, sondern gemeinsam mit den überlebenden Gefangenen aus Sonnenburg nach Westen zurückgeführt worden sind. Auch die Angabe über die Kenntnis des Staatssekretärs Klemm von den Vorgängen in Sonnenburg ist zweifelhaft. Wie später im einzelnen auszuführen sein wird, hat der inzwischen verstorbene Zeuge Klemm in allen seinen Vernehmungen sein Wissen und seine Beteiligung von den Vorgängen in Sonnenburg abgestritten. Diese Angaben werden durch die Aussage des ebenfalls verstorbenen Zeugen Hec. gestützt. Dieser hat nach der Aussage des Zeugen Egg. bei der Übergabe des schriftlich niedergelegten Vermerks sinngemäss über den Generalstaatsanwalt Hanssen gesagt: "Da hat er den Staatssekretär überfahren". Für Klemms umfassende Kenntnis von diesen Dingen spricht allerdings, dass Klemm am 3.Februar 1945 einen Aktenvermerk über einen Ministervortrag niedergelegt hat, in dem im Zusammenhang mit der Räumung des Zuchthauses Gollnow von Gefangenenüberstellungen an die Polizei die Rede