Justiz und NS-Verbrechen Bd.XX

Verfahren Nr.569 - 589 (1964 - 1965)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.281

 

Lfd.Nr.579a    LG Aurich    26.06.1964    JuNSV Bd.XX S.366

 

im Lager Jahnstrasse untergebracht haben.

 

Der auf Grund des festgestellten Sachverhalts bestehende Verdacht, dass Reuwen Richmann durch Dr. Scheu oder auf dessen Veranlassung getötet worden ist, würde sich zur Gewissheit verstärken, wenn man der Aussage des Zeugen Joseph Ar. folgen könnte, der bei seiner kommissarischen Vernehmung folgendes bekundet hat: Er habe im Spätsommer 1942 zusammen mit anderen Juden im Wald bei Heydekrug Holz gehackt. Einmal sei auf der Strasse ein geschlossener Personenkraftwagen vorbeigefahren. Da er nur wenige Meter von der Strasse entfernt gearbeitet habe, habe er die Insassen erkennen können. Es seien Dr. Scheu, ein unbekannter Mann, der seines Wissens Uniform getragen habe, und Reuwen Richmann gewesen, den er schon aus der Zeit vor dem Kriege gekannt habe. Ein paar Minuten nach der Vorbeifahrt des Autos habe er in der Nähe des Waldes Schüsse vernommen. Nach weiteren 10 bis 15 Minuten sei das Auto wieder zurückgekommen. Jetzt seien nur noch Dr. Scheu und der andere SS-Mann im Wagen gewesen; Richmann habe sich nicht mehr bei ihnen befunden.

 

Indessen hat das Schwurgericht aus denselben Gründen, die bereits im Zusammenhang mit der Erschiessung von drei Juden in Sveksna (Abschnitt VII.2. der Urteilsgründe) erörtert worden sind, sich von der Richtigkeit dieser Aussage des Zeugen Joseph Ar. nicht überzeugen können. Zwar hat der Zeuge seine Aussage mit dem Eide bekräftigt. In der Hauptverhandlung sind auch keine durchgreifenden Bedenken gegen die subjektive Glaubwürdigkeit des Zeugen hervorgetreten. Trotzdem unterliegt die Frage, ob seine Aussage objektiv richtig ist, immerhin gewissen Zweifeln. Der Zeuge hat nach allem, was er in den Jahren 1941 bis 1943 erlebt hat, einen (berechtigten und verständlichen) Hass auf Dr. Scheu. Er hält ihn für den Mörder seines Bruders. Diese Umstände können seine Wahrnehmungsfähigkeit, seine Vorstellungskraft und sein Erinnerungsvermögen in Angelegenheiten, die mit Dr. Scheu zusammenhängen, in einem für die Feststellung der objektiven Wahrheit abträglichen Sinne beeinflusst haben. Sie können dazu geführt haben, dass der Zeuge an sich harmlose Vorgänge missverstanden und ihnen in seiner Vorstellung eine Bedeutung beigemessen hat, die ihnen tatsächlich nicht zukommt. Es können sich dadurch auch Verschiebungen seines Erinnerungsbildes ergeben haben. Jedenfalls fällt es auf, dass der Zeuge sowohl bei dem Vorgang in Sveksna als auch im Fall Reuwen Richmann gerade den letzten und für eine Überführung von Dr. Scheu erkennbar besonders wichtigen Teil des Gesamtgeschehens beobachtet haben will, den die anderen jüdischen Zeugen nicht wahrgenommen haben. Vielleicht ist es wirklich so gewesen, wie der Zeuge es schildert. Nach Ansicht des Schwurgerichts lässt sich die Möglichkeit, dass der Zeuge mehr bekundet, als er tatsächlich gesehen hat, aber nicht mit Sicherheit ausschliessen.

Die Aussage des Zeugen Ar. gewinnt auch dadurch nicht an Beweiskraft, dass der Zeuge Y. bekundet hat, er habe im Lager Jahnstrasse etwa 10 bis 15 Minuten nach dem Abtransport von Reuwen Richmann Schüsse gehört. Denn der Zeuge Y. ist mit Ar. befreundet und wohnt wie dieser in Chicago. Er hat sicherlich häufig mit Ar. über den Vorfall gesprochen und kann dadurch (bewusst oder unbewusst) beeinflusst worden sein. Ausserdem können die Schüsse, die Y. gehört haben will, auch eine andere Ursache gehabt haben.

 

Der Angeklagte Dr. Scheu ist nach alledem in sehr hohem Masse verdächtig, den jüdischen Häftling Reuwen Richmann getötet oder seine Tötung durch andere veranlasst zu haben. Trotzdem hält das Schwurgericht einen eindeutigen Tatbeweis nicht für erbracht. Denn es bleibt die (allerdings sehr unwahrscheinliche) Möglichkeit offen, dass Dr. Scheu und Buttgereit in dem Bestreben, die Juden einzuschüchtern, Reuwen Richmann nach seinem Abtransport aus Russ und nach seinem vorübergehenden Aufenthalt im Lager Jahnstrasse nur in ein anderes Lager oder an eine andere Arbeitsstelle verlegt haben oder dass sie ihn nach Litauen abgeschoben haben. In dem letzten Falle besteht weiterhin die (ebenfalls sehr unwahrscheinliche) Möglichkeit, dass Dr. Scheu nicht wusste, dass Richmann in Litauen nur den Tod zu erwarten hatte, und dass er auch nicht mit einer Tötung Richmanns rechnete und diese billigend in Kauf nahm. Das Schwurgericht hat sich deshalb von der Richtigkeit des Dr. Scheu gemachten Vorwurfs, mit Wissen und Wollen (vorsätzlich) den Häftling Reuwen Richmann getötet oder