Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam
Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.365
der zweite wäre. Der Strommeister sei währenddessen hinter Dr. Scheu und seinem Gehilfen geblieben und habe mit dem Kopf geschüttelt, damit der Taubstumme nicht sagen sollte, wer der zweite Bettler war. Richmann habe diesen auch nicht verraten. Dr. Scheu habe darauf erklärt: "Diesen werdet ihr nie wiedersehen, genauso wie jeden anderen, der betteln geht." Dann sei er mit Richmann fortgefahren.
Wenn diese Angaben auch in einigen Punkten voneinander abweichen, so stimmen sie doch in ihrem Kern überein. Da die Zeugen überdies einen glaubwürdigen Eindruck machen, ist das Schwurgericht auf Grund ihrer Aussagen davon überzeugt, dass sich der Vorgang so, wie er oben festgestellt ist, tatsächlich ereignet hat, wenn sich auch manche Einzelheiten (z.B. die Frage, ob Dr. Scheu einzelne Juden prügeln liess, um von ihnen den Namen des zweiten Bettlers zu erfahren) nicht mehr aufklären lassen.
Über den vorübergehenden Aufenthalt von Reuwen Richmann im Lager Jahnstrasse berichten die Zeugen Glu. und Y. Glu. bekundet, Dr. Scheu und Buttgereit hätten Richmann mit einem Personenkraftwagen nach Heydekrug gebracht. Buttgereit habe sich zwei Spaten aus dem Lager geben lassen. Dann seien Dr. Scheu, Buttgereit und Richmann im Wagen fortgefahren. Dr. Scheu habe eine Pistole, Buttgereit ein Gewehr bei sich gehabt. Richmann sei nicht mehr zurückgekommen. Buttgereit habe später dem jüdischen Koch Gailis erzählt, dass Richmann tot sei. Der Zeuge Y. bekundet, er habe in der Jahnstrasse gerade den Speiseraum sauber gemacht, als ein Personenkraftwagen angekommen sei. Dr. Scheu und Buttgereit hätten aus der Lagerküche einen Gegenstand geholt, der in eine Decke eingewickelt gewesen sei. Er, der Zeuge, habe diesen Gegenstand nicht genau erkennen können, aber doch die Kante eines Spatens gesehen. Dr. Scheu und ein anderer Mann (wahrscheinlich Buttgereit) hätten sodann Reuwen Richmann aus einer Baracke geholt und ihn ganz schnell in den Wagen geschoben. Dann seien sie mit ihm fortgefahren. Nach etwa 10 bis 15 Minuten habe er, der Zeuge, Schüsse gehört. Die Juden im Lager hätten Richmann später nicht mehr gesehen.
Der festgestellte Sachverhalt begründet den schweren Verdacht, dass Dr. Scheu und Buttgereit Reuwen Richmann in der Nähe von Heydekrug erschossen und den Leichnam vergraben haben.
Die Annahme, dass Dr. Scheu einen Juden nur deshalb getötet hat, weil dieser bei der Bevölkerung gebettelt hatte, ist entgegen der mit viel Entrüstung vorgebrachten Meinung des Angeklagten durchaus nicht abwegig. Zwar trifft es sicher zu, dass die jüdischen Zwangsarbeiter häufig gebettelt haben, ohne dass dieser Verstoss gegen die Lagerdisziplin mit schweren Strafen geahndet worden ist. Das lag aber in erster Linie an der Haltung des jeweiligen Lagerführers. Ausserdem weist der Fall Reuwen Richmann insofern eine Besonderheit auf, als hier Dr. Scheu eine Anzeige aus dem Kreise der Zivilbevölkerung zugegangen war, die ihn schon mit Rücksicht auf seine Autorität und auf sein Ansehen bei den Behörden und Parteidienststellen zu harten Massnahmen veranlassen konnte. Schliesslich kommt hinzu, dass Dr. Scheu - jedenfalls in der damaligen Zeit - das Leben eines Juden sehr gering einschätzte, wie er durch seine bereitwillige Mitwirkung bei der Erschiessungsaktion von Naumiestis bewiesen hat. Die Ermordung Reuwen Richmanns, die Dr. Scheu zur Last gelegt wird, ist daher für ihn keinesfalls persönlichkeitsfremd.
Auch der Umstand, dass Reuwen Richmann nach seinem Abtransport aus Russ noch für kurze Zeit in dem Lager Jahnstrasse in Heydekrug auftauchte, bevor er für immer verschwand, spricht nicht gegen seine Ermordung durch Dr. Scheu und Buttgereit. Da die Umgebung von Russ keinen Wald aufweist, wäre es dort nicht einfach gewesen, Reuwen Richmann ohne Aufsehen zu beseitigen. Dagegen boten sich in der waldreichen Umgebung von Heydekrug genügend Möglichkeiten an, um eine Einzelexekution durchzuführen, ohne mit einer Beobachtung durch unliebsame Zeugen rechnen zu müssen. Wenn Dr. Scheu und Buttgereit Richmann töten wollten, war es daher durchaus sinnvoll, ihn zunächst nach Heydekrug zu bringen. Der vorübergehende Aufenthalt im Lager Jahnstrasse lässt sich damit erklären, dass Dr. Scheu und Buttgereit hier Station machten, um sich das für die Beerdigung erforderliche Werkzeug zu besorgen. Es ist aber auch möglich, dass die Täter wegen der vorgeschrittenen Tageszeit die Exekution auf den nächsten Morgen verschoben und Reuwen Richmann deshalb über Nacht