Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam
Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.360
dass ihnen von Selektionen in den Lagern überhaupt nichts bekannt geworden sei. Der Angeklagte Dr. Scheu lässt sich dahin ein, er habe während seiner Lageraufsicht nur zwei Verluste unter den Juden gehabt. Ein Häftling sei an einer Lungenentzündung gestorben, der andere sei in Hermannlöhlen von Gorgel erschossen worden (Fall Abraham Kaplan). Erkrankte Häftlinge seien gesund gepflegt worden. Die ärztliche Versorgung sei durch einen jüdischen Arzt erfolgt, der erst im Lager Jahnstrasse und später in einem anderen Lager untergebracht gewesen sei. In schweren Fällen hätte er, Dr. Scheu, selbst die Behandlung übernommen. Er sei niemals zusammen mit Jagst in einem Lager gewesen und habe niemals kranke oder arbeitsunfähige Häftlinge zur Tötung ausgewählt.
Der Angeklagte Jagst gibt an, er habe ungefähr im August 1941 von Landrat Schm. oder von Bu. fernmündlich den Auftrag bekommen, einen Transport kranker Häftlinge aus dem Lager Jahnstrasse nach Neustadt zu bringen. Landrat Schm. oder Bu. habe ihm am Telefon gesagt, die Juden seien aus der Haft entlassen, sie sollten nach Hause gehen. Als er zum Lager gekommen sei, habe ein Lastkraftwagen mit 12 bis 15 Juden vor der Baracke gestanden. Der Fahrer sei der Kaufmann Mü. (Zeuge) gewesen. Er, Jagst, habe die Juden in Neustadt der litauischen Polizei übergeben und, wie man ihm aufgetragen habe, die Oberbekleidung der Leute zurückgebracht.
Der Zeuge Mü. hat vor dem Untersuchungsrichter bekundet, Jagst und er hätten Juden nach Litauen gefahren und diese bei der litauischen Polizei abgegeben; sie hätten die Kleidung der Juden ins Lager zurückgebracht. Diese Tatsache ist durch die Vernehmung des Untersuchungsrichters (Zeuge Wa.) in das Verfahren eingeführt worden. In der Hauptverhandlung hat der Zeuge Mü. zunächst gesagt, er könne sich nicht erinnern, Juden nach Litauen mitgenommen zu haben, und dann auf weitere Fragen die Aussage verweigert.
Der Angeklagte Al. behauptet, er wisse von Aussonderungen überhaupt nichts; insbesondere habe im Lager Jahnstrasse in der Zeit, in der er dort Lagerführer war, keine Selektion stattgefunden.
Trotz des Leugnens der Angeklagten steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme fest, dass in den Arbeitslagern die oben erwähnten Selektionen durchgeführt worden sind und die Angeklagten Dr. Scheu, Jagst und Al. daran beteiligt waren.
Die Feststellungen über die erste Selektion im Lager Jahnstrasse beruhen auf den Aussagen der Zeugen J. und Y., die allerdings in der Frage, wer die Auswahl vorgenommen hat, nicht übereinstimmen (J.: Dr. Scheu und Wal.; Y.: Bu.). Auch der Zeuge Dr. berichtet von diesen Selektionen im Lager Jahnstrasse.
Von der ersten Selektion im Lager beim Bürgermeisteramt und auf dem Stadtgut Matzicken haben die jüdischen Zeugen Dr. und La. und der deutsche Zeuge Paul Pe. berichtet. Der Zeuge La. bekundet hierzu, dass an der Auswahl in Matzicken ausser Dr. Scheu und Jagst auch Al. teilgenommen habe. Das Schwurgericht hat jedoch Bedenken, eine solche Feststellung zu treffen, weil Al. nach seiner unwiderlegten Einlassung damals noch nicht "hauptamtlich" bei der Lagerbewachung tätig war; trotzdem kann die - an sich sehr zuverlässige - Aussage des Zeugen La. auch insoweit richtig sein.
Die Feststellungen über die erste Selektion im Lager Matzstubbern/Ullosen beruhen auf den Aussagen der jüdischen Zeugen Hal., Glu., Arie Go., David Go. und Joseph Ar., die im wesentlichen übereinstimmen und überdies durch die Angaben der deutschen Zeugen Bal. und Kü. bestätigt werden. Der Zeuge Ar. hat ausser Dr. Scheu und Jagst auch Al. bezichtigt, sich an der Selektion beteiligt zu haben. Das Schwurgericht vermag dem aber nicht zu folgen, da die anderen jüdischen Zeugen Al. nicht bemerkt haben wollen und dieser im übrigen damals noch nicht "hauptamtlich" im SS-Wachdienst beschäftigt war.
Über die erste Selektion in Schillwen berichten die jüdischen Zeugen Jo. und Si. Der Zeuge Si., der hierbei seinen Vater verloren hat, bekundet mit Bestimmtheit, dass Jagst der Täter war. Der Zeuge St., der in Schillwen einen Bauernhof hatte, weiss aus Erzählungen, dass Juden aus dem Lager geholt und nach Litauen gebracht wurden. Die Feststellungen über die erste Selektion in Wersmeningken beruhen im wesentlichen auf der Schilderung des Zeugen L., dessen Vater bei dieser Gelegenheit abgeführt