Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXVI

Verfahren Nr.758 - 767 (1971 - 1972)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.758 LG Kiel 02.08.1971 JuNSV Bd.XXXVI S.5

 

Lfd.Nr.758    LG Kiel    02.08.1971    JuNSV Bd.XXXVI S.36

 

gehörte. Es galten daher im Gebiet um Sonnenburg die Kommandokompetenzen III. 1. und noch nicht III. 3. des Führererlasses. Die Tatsache, dass das Gebiet um Sonnenburg bereits zum Operationsgebiet erklärt worden war, entnimmt das Gericht daraus, dass zu dieser Zeit vom "Festungskommandanten Küstrin" in dem Vermerk des Zeugen Egg. die Rede ist, die russische Armee unmittelbar vor diesem Gebiet stand und weitere Angriffe der feindlichen Kräfte erwartet wurden. Andererseits geht aus einem Fernschreiben vom 28. oder 29.1.1945 des Reichsführers SS Heinrich Himmler als dem Befehlshaber der Weichselarmee an das Reichsministerium des Innern und den Gauleiter Oberpräsident Stürtz, hervor, dass Sonnenburg noch nicht zur "unmittelbaren Kampfzone" gehörte. Das Fernschreiben lautete wie folgt:

"1. Ich ordne an, dass zunächst aus einer 15 km breiten Zone westlich Tirschtiegel-Riegel geregelt und organisiert Frauen und Kinder evakuiert werden.

2. Alle militärischen Stellen sowie alle Dienststellen von Partei und Staat sowie die ganze männliche Bevölkerung bleibt in diesem Gebiet.

3. Die Leiter aller militärischen und zivilen Dienststellen müssen sich darüber klar sein, dass das Verlassen ihres Platzes ohne Befehl die Todesstrafe nach sich zieht.

..."

 

Obwohl Gauleiter Stürtz nicht als Reichsverteidigungskommissar bezeichnet wurde, richtete sich dieses Fernschreiben nach der überzeugenden Angabe des Sachverständigen Prof.Dr. Kra. an ihn in seiner formellen Zuständigkeit als Reichsverteidigungskommissar. Da diese Anordnung lediglich eine Zone 15 km westlich des Tirschtiegelriegels betraf und Sonnenburg nicht zu diesem Gebiet gehörte, sondern weiter westlich lag, ist es sicher, dass im Raume Sonnenburg formell die Befehlsbefugnisse entsprechend III. 1. des zweiten Führererlasses über die Befehlsgewalt in einem Operationsgebiet vom 20.9.1944 galten.

 

3.242 Reichsführer SS Himmler

 

Nach dieser Erlassstelle war jedoch der Reichsführer SS Heinrich Himmler nicht für Anordnungen, wie sie in Sonnenburg erfolgt sind, völlig ausgeschaltet. Ihm oblag nach III. 1. des Erlasses die reichseinheitliche "Ausrichtung" aller nach diesem Erlass von den Reichsverteidigungskommissaren zu treffenden Massnahmen. Ihm wurde hiernach eine Befugnis zum Eingreifen erteilt. Dies bedeutet aber nicht, dass Heinrich Himmler in jedem Einzelfall eingreifen musste und eingegriffen hat. Auf die hier aufgezeigte Kompetenz bezieht sich offensichtlich der Zeuge Egg. in seinem Vermerk mit den Worten "... Eine Anordnung, die vom Reichsführer SS genehmigt worden ist ...".

 

3.243 Inspekteurs der Sicherheitspolizei und des SD Dr. Fischer

 

Hiernach wäre auch verständlich, wenn sich der Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD, Dr. Fischer, mit der Angelegenheit Sonnenburg befasst hätte. Wieweit er sich im einzelnen damit befasst hat, konnte nicht festgestellt werden. Es hat sich nur feststellen lassen, dass er jedenfalls einmal bei dem Angeklagten Ric. Nachfrage gehalten und die Durchführung der Anordnung telefonisch angemahnt hat. Nach Ziffer IV. 2. des Führererlasses hatte sich der Reichsverteidigungskommissar für das Operationsgebiet in Angelegenheiten der Polizei des zuständigen höheren SS- und Polizeiführers zu bedienen, der in jedem Fall dem Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD gegenüber weisungsbefugt war. Sowohl nach den "Richtlinien für die Räumung von Justizvollzugsanstalten im Rahmen der Freimachung bedrohter Reichsgebiete" als auch nach einem Runderlass des RFSSuChdDtPol. im RMdI vom 24.4.1939 (Dienstvorschrift für den Gefangenentransport PDV 28, RMBliV. 1939 Bl.1096g war die Räumung von Justizvollzugsanstalten Sache der Polizei, sei es, dass die Gefangenen abtransportiert werden sollten, sei es, dass sie der Polizei zur Tötung überstellt werden sollten.