Justiz und NS-Verbrechen Bd.XX

Verfahren Nr.569 - 589 (1964 - 1965)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.281

 

Lfd.Nr.579a    LG Aurich    26.06.1964    JuNSV Bd.XX S.348

 

BGHSt. Bd.18 S.311 f.).

 

Hiernach kann es dahingestellt bleiben, ob sich Dr. Scheu und Struve durch die Nichtbefolgung des (angeblich) erhaltenen Befehls der Gestapo objektiv einer Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt hätten, was im übrigen mehr als zweifelhaft erscheint. Denn weder waren sie sich bei der Begehung der Tat einer solchen Zwangslage bewusst noch haben sie ihren Tatbeitrag in dem Glauben geleistet, einer solchen Gefahr nicht auf andere Weise ausweichen zu können. Schliesslich haben sie sich auch nicht ernsthaft bemüht, sich und die ihnen unterstellten SS-Männer aus der Erschiessungsaktion herauszuhalten, obwohl dies unter den gegebenen Umständen nicht sonderlich schwer fallen konnte.

Die Angeklagten haben sich auch gar nicht darauf berufen, dass sie in der Vorstellung einer Gefahr für Leib und Leben gehandelt hätten. Zwar haben nach ihrer Einlassung Dr. Scheu einen Befehl der Gestapo und Struve einen Befehl des SS-Reiterinspekteurs Bösel erhalten, der sie und ihre SS-Männer zur Mitwirkung an der Aktion verpflichtete. Diese (angeblichen) Befehle sind ihnen aber nicht unter Druck erteilt worden; auch sind ihnen für den Fall der Nichtbefolgung keinerlei Nachteile für Leib oder Leben angedroht worden. Weder bei der Kaserne in Naumiestis noch auf dem Erschiessungsplatz war ein leitender Beamter der Gestapo anwesend, der die Angeklagten mit der Drohung einer Gefahr für Leib und Leben zwingen konnte, sich an der Erschiessungsaktion zu beteiligen. Die tatsächliche Leitung der Aktion lag vielmehr in den Händen des Angeklagten Struve, der mit Abstand der ranghöchste SS-Führer auf dem Erschiessungsplatz war. Auf ihn ist daher während des ganzen Ablaufs der Aktion kein Zwang zum Handeln ausgeübt worden; aber auch Dr. Scheu stand nicht unter einem ausweglosen Befehlsdruck. Zwar war sein Vorgesetzter, der Angeklagte Struve, am Erschiessungsplatz anwesend. Dieser hat Dr. Scheu aber in keiner Weise mit einer Gefahr für Leib oder Leben bedroht. Zwischen den Angeklagten bestand, wie beide übereinstimmend erklären, ein durchaus kameradschaftliches Verhältnis. Da Dr. Scheu ausserdem wesentlich gewandter und intelligenter war als Struve und eine ganz andere soziale Stellung inne hatte, besass er trotz seines niedrigeren SS-Ranges einen beträchtlichen Einfluss auf Struve.

Die Annahme, dass Dr. Scheu sich durch die Anwesenheit von Struve auf dem Erschiessungsplatz bedroht fühlte, muss daher von vornherein ausscheiden, zumal Dr. Scheu selbst sich hierauf nicht berufen hat. Demnach kann bei beiden Angeklagten von einem nennenswerten Befehlsdruck keine Rede sein.

 

Obwohl es Dr. Scheu und Struve unter diesen Umständen leicht möglich gewesen wäre, die Durchführung der Exekutionen zu verhindern oder abzubrechen oder doch wenigstens sich selbst und die ihnen unterstellten SS-Männer aus der Aktion herauszuhalten, haben die Angeklagten in dieser Richtung nichts unternommen.

Dr. Scheu und Struve haben nicht einmal versucht, ihre eigene Beteiligung und die Mitwirkung ihrer SS-Männer an der Erschiessungsaktion auf ein möglichst geringes Mass zu beschränken, obwohl dies schon deshalb besonders nahe lag, weil der (angebliche) Gestapobefehl sie nur zu "Absperr- und Hilfsmassnahmen", nicht aber zur eigenhändigen Teilnahme an den Exekutionen verpflichtete. Stattdessen haben sie unaufgefordert die Leitung der Aktion übernommen, durch verschiedene Anordnungen und Massnahmen aktiv in das Tatgeschehen eingegriffen und sowohl die eigenhändige Beteiligung ihrer SS-Männer an den Exekutionen geduldet als auch selbst auf die Opfer geschossen. Dieses Verhalten beweist, dass Dr. Scheu und Struve nicht nach einer Möglichkeit gesucht haben, ihre Beteiligung einzuschränken, sondern sich im Gegenteil tatkräftig für den reibungslosen Ablauf der Aktion eingesetzt haben.

Aus dem gesamten Verhalten der Angeklagten ergibt sich, dass sie nicht in dem Bewusstsein einer ausweglosen Zwangslage gehandelt, sondern sich völlig mit dem Denken und Handeln der (wirklichen oder vermeintlichen) Taturheber identifiziert haben.

 

e. Konkurrenzfrage

 

Da bei unselbständigen Teilnehmern "Handlung" im Sinne des §73 nicht die Handlung des Haupttäters, sondern der Tatbeitrag des Teilnehmers ist, muss die Konkurrenzfrage