Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLIX

Verfahren Nr.920 - 924 (2002 - 2012), 880 (Erratum), 950 - 959 (1945 - 1960; Nachtragsverfahren)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.924 LG München II 12.05.2011 JuNSV Bd.XLIX S.227

 

Lfd.Nr.924    LG München II    12.05.2011    JuNSV Bd.XLIX S.347

 

Die inhaltlich durchweg gleichbleibende Angabe des Angeklagten, dass er nach Graz gekommen sei, um in der "Shandruk-Einheit" zu dienen, stehe für die vom Angeklagten angegebenen Zeiten mit der historischen Entwicklung nicht in Einklang. Die ukrainische Streitmacht in Graz habe sich erst ab März 1945 zu bilden begonnen. Die meisten Führer der ukrainischen nationalistischen Bewegung hätten sich bis Herbst 1944 in Konzentrationslagern befunden. Nach ihrer Freilassung im September und Oktober 1944 hätten sie einen ukrainischen Nationalrat gebildet, der dann später Pavlo Shandruk, einen ethnischen Ukrainer und früheren Offizier der polnischen Armee, ausgewählt habe, eine noch zu bildende ukrainische Befreiungsarmee anzuführen, die später in die "Ukrainische Nationalarmee" umbenannt worden sei.

 

Als Kern der neuen Streitmacht sei die 14.Galizische SS-Division, umbenannt in 1.Ukrainische Division, vorgesehen gewesen. Diese Einheit der Waffen-SS sei Mitte 1943 entstanden, hauptsächlich rekrutiert aus Freiwilligen aus der westlichen Ukraine. Die Division sei jedoch bei ihrem ersten Einsatz gegen die Rote Armee im Juni/Juli 1944 bei der Kesselschlacht von Brody buchstäblich ausgelöscht worden. Auf Befehl Himmlers vom 7.August 1944 habe ab 15.September 1944 die Wiederaufstellung dieser Division im oberschlesischen Neuhammer und im polnischen Debica begonnen. Ab Oktober 1944 sei die Einheit zunächst in der Slowakei und dann in Slowenien eingesetzt gewesen, ehe sie im März 1945 nach Graz zurückgefallen sei, wo sie sich zur theoretischen Basis für Shandruks Armee entwickelt habe.

 

Dementsprechend seien die Angaben des Angeklagten zu seiner Mitwirkung im Rahmen der Shandruk-Einheiten für sämtliche von ihm angegebenen möglichen Zeitpunkte (Herbst 1943, Frühjahr 1944 oder Herbst 1944) historisch unhaltbar, da es zu diesen Zeitpunkten keine ukrainische Militäreinheit gegeben habe, der er sich hätte anschliessen können. Hierbei sei nicht ausgeschlossen, dass der Angeklagte tatsächlich im März 1945 nach Graz verbracht worden sei, um sich Shandruk anzuschliessen; dies könne dann aber nicht auf dem direkten Weg von dem bereits seit über einem halben Jahr aufgelösten Stalag 319 aus vonstatten gegangen sein. Soweit er zu einem früheren Zeitpunkt nach Graz gekommen sein sollte, könne dies jedoch wiederum nicht im Zusammenhang mit der von ihm selbst erwähnten Tätigkeit bei der Shandruk-Einheit stehen.

 

Auch die weitere Einlassung zu seiner Verlegung ins Truppenlager Heuberg und seiner Tätigkeit in der "Wlassow-Armee" weise ebenfalls historische Diskrepanzen auf:

 

Andrei Andrejewitsch Wlassow sei vor seiner Gefangennahme durch die deutschen Streitkräfte im Frühjahr 1942 General bei der Roten Armee gewesen. Gegen Ende 1944 sei er als der oberste Befürworter für die Bildung einer von Deutschen unterstützten russischen Armee im Widerstand gegen die Sowjetarmee aufgetreten. Am 16.September 1944 habe sich Wlassow mit Himmler getroffen und diesen überzeugt, die Bildung von zwei oder drei russischen Divisionen zu gestatten. Nach der Proklamation der "Russischen Befreiungsbewegung" in Prag am 14.November 1944 habe Wlassow damit begonnen, eine erste Division in Münsingen zu bilden. Im Januar 1945 sei eine zweite Division in Heuberg (Nähe Münsingen) aufgestellt worden. Wlassow habe am 28.Januar 1945 offiziell das Kommando der zwei noch unvollständigen Divisionen übernommen.

 

In diesem Zusammenhang könne die frühere Behauptung des Angeklagten, er sei Ende 1944 in Heuberg angekommen, mit der Gründung der zweiten Division im Januar 1945 in zeitlichem Zusammenhang stehen. Allerdings werde dieser Aspekt wiederum dadurch widerlegt, dass der Angeklagte durchweg seine Überstellung von Graz nach Heuberg angab und die vom ihm geschilderten Tätigkeiten dort eben erst ab März 1945 in Betracht kommen. Eine frühere Ankunft in Heuberg Ende 1943 oder Mitte 1944 könne jedenfalls nicht mit der von ihm erwähnten Aufstellung der "Wlassow-Armee" zusammenhängen.