Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLIX

Verfahren Nr.920 - 924 (2002 - 2012), 880 (Erratum), 950 - 959 (1945 - 1960; Nachtragsverfahren)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.924 LG München II 12.05.2011 JuNSV Bd.XLIX S.227

 

Lfd.Nr.924    LG München II    12.05.2011    JuNSV Bd.XLIX S.346

 

sich dem Gebiet zu nähern", wobei sich dies auf das Jahr 1943 bezogen habe, weil er nach seiner Aussage Graz Ende 1943 oder Anfang 1944 mit dem Ziel Heuberg verlassen habe.

 

Im Jahr 1987 habe der Angeklagte die Chronologie abermals geändert und angegeben, dass er Chelm mit dem Ziel Graz im Frühjahr 1944 verlassen und dann nach 15 Wochen, "im Frühling, näher dem Sommer 1944" von dort nach Heuberg gekommen sei, was einen zeitlich sogar noch längeren Aufenthalt im Stalag 319 als die geschätzten 18 Monate bedeuten würde.

 

Mit unterschiedlichen Zeitangaben, jedoch in der Sache übereinstimmend habe der Angeklagte in verschiedenen Vernehmungen angegeben, dass er von Chelm aus in den Militärdienst in ukrainische und dann in gemischte russische und ukrainische Einheiten aufgenommen worden sei. Die Deutschen hätten ihn zunächst zusammen mit anderen Gefangenen nach Graz gebracht und eine ukrainische Armee zum Kampf gegen die Armee der Sowjetunion gebildet. Es habe sich dabei um die "ukrainische Division" oder "ukrainische Nationalarmee", kommandiert von einem "General Shandruk", gehandelt. Die "Shandruk-Einheit" sei eine Einheit gewesen, die von in der Stadt Graz stationierten Ukrainern gebildet worden sei. Der Angeklagte habe sich etwa einen Monat in Graz an diesen Aktivitäten beteiligt, ehe ihn "die ukrainischen Offiziere der ukrainischen Division" nach Heuberg weggebracht hätten, wo eine Einheit der "Wlassow-Armee" aufgestellt worden sei, in der er Dienst getan habe. Kurz vor Kriegsende sei er von dort aus nach Bischofshofen gelangt, wo er von amerikanischen Streitkräften aufgegriffen worden sei, wobei zu diesem Ablauf die einzelnen Aussagen in Details unterschiedliche Versionen beinhalten würden.

 

Sämtliche Varianten des Angeklagten zu seinem angeblichen Aufenthalt zwischen Sommer 1942 und dem Kriegsende 1945 seien jeweils in Teilbereichen nicht mit historisch gesicherten Fakten in Einklang zu bringen und zudem in anderen Teilen äusserst unwahrscheinlich.

 

Soweit der Angeklagte zur Dauer seines Aufenthalts in Chelm angegeben habe, dass er dieses Lager erst im Herbst 1944 verlassen habe, sei die Version historisch unmöglich, da die Sowjets Chelm Mitte Juli 1944 überrannt hätten. Nach den monatlichen Statistiken der Kriegsgefangenenabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht, die für das Stalag 319 annähernd lückenlos zur Verfügung stünden, lasse sich feststellen, dass der Bestand an sowjetischen Kriegsgefangenen dort vom 1.Februar 1944 bis zum 1.April 1944 von 24931 Personen auf 464 Personen reduziert worden sei, was plausibel mit Evakuierungsmassnahmen in Anbetracht der anrückenden Sowjetarmee zu erklären sei. Bereits zum 1.Mai 1944 sei das Lager nach Skierniewice, gut 200 Kilometer nordwestlich von Chelm, verlegt worden.

 

Aber auch eine Verweildauer im Stalag 319 bis Ende 1943 oder Frühjahr 1944 sei in Anbetracht der dort herrschenden verheerenden Lebensbedingungen äusserst unwahrscheinlich. Nach den Monatsstatistiken von August 1942 bis Anfang 1944 zeige sich beim Gefangenenbestand des Stalag 319 eine hohe Fluktuation, die sich an monatlichen Bestandsveränderungen im Bereich von meist mehreren tausend Kriegsgefangenen ableiten liesse, wobei jeweils nur ein relativ geringer Anteil unter der statistischen Rubrik "Kriegsgefangene im Arbeitseinsatz" geführt worden seien. Es bestehe kein Zweifel daran, dass die Sterblichkeit in dem Lager hoch gewesen sei; ferner habe es auch vielfach Transfers der Kriegsgefangenen in das Reichsgebiet zum Einsatz als Zwangsarbeiter gegeben. Vor diesem Hintergrund sei eine derart lange Verweildauer des Angeklagten äusserst zweifelhaft, wenn auch für sich genommen historisch nicht unmöglich.

 

Hingegen erwiesen sich die Angaben des Angeklagten für die Variante, dass er bis Ende 1943 oder Frühjahr 1944 tatsächlich im Stalag 319 gewesen sein sollte, im Hinblick auf seine weiteren Angaben zu der Zeit nach Chelm als historisch unhaltbar.