Justiz und NS-Verbrechen Bd.XX

Verfahren Nr.569 - 589 (1964 - 1965)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.281

 

Lfd.Nr.579a    LG Aurich    26.06.1964    JuNSV Bd.XX S.346

 

(eines im Völkerrecht anerkannten letzten Mittels, den Gegner, seine Streitkräfte und seine Bevölkerung zur Einhaltung der Kriegsgesetze zu zwingen) ausgeschlossen. Staatsnotwehr (§53 StGB) kommt schon deshalb nicht in Frage, weil es sich bei der Massenexekution nicht um die Abwehr eines in der Gegenwart drohenden Angriffs gehandelt hat, was die Haupttäter nach der Überzeugung des Schwurgerichts auch gewusst haben. Übergesetzlicher Notstand und Staatsnotstand (§54 StGB) scheiden deshalb aus, weil es an der Verhältnismässigkeit zwischen der Schwere der Gefahr und der durch die Abwehrhandlung begangenen Rechtsgüterverletzung fehlt. Die Massenerschiessung der Juden war auch nicht als kriegerische Repressalie zu rechtfertigen. Denn sie widersprach den einfachsten Anforderungen der Menschlichkeit und des öffentlichen Gewissens und ging daher weit über die Grenzen einer zulässigen Repressalie hinaus.

 

dd. Kein Verbotsirrtum

 

Die Haupttäter sind nach der Überzeugung des Schwurgerichts bei der Vorbereitung und Durchführung der Judenvernichtung der Rechtswidrigkeit ihres Tuns bewusst gewesen. Sie haben klar erkannt, dass eine so ungeheuerliche Massnahme der menschlichen Moral und dem Völkerrecht widersprach und jeder rechtlichen Grundlage entbehrte. Denn die Rechtswidrigkeit solcher Massnahmen war auch in der damaligen Zeit so selbstverständlich, dass sie jedem zivilisierten Menschen ohne weiteres einleuchten musste.

 

ee. Keine sonstigen Schuldausschliessungsgründe

 

Die Haupttäter haben nach der Überzeugung des Schwurgerichts vorsätzlich und schuldhaft gehandelt. Irgendwelche Schuldausschliessungsgründe sind bei ihnen nicht ersichtlich.

 

d. Die Strafbarkeit der Angeklagten Dr. Scheu und Struve

 

aa. Gemeinschaftliche Beihilfe zum Mord

 

Die für den Ablauf der Erschiessungsaktion mitursächliche Tätigkeit der Angeklagten Dr. Scheu und Struve ist als Beihilfe zum Mord anzusehen; denn die Angeklagten haben ihren Tatbeitrag wissentlich, d.h. mit dem Willen, die Haupttat zu fördern, und in Kenntnis der äusseren und inneren Tatbestandsmerkmale der Haupttat, geleistet. Die Frage, ob ein Gehilfe bei der Tötung eines Menschen wegen Beihilfe zum Mord oder wegen Beihilfe zum Totschlag zu bestrafen ist, richtet sich nach der Rechtsprechung danach, ob er die qualifizierten Tatumstände des §211 StGB a.F. oder des §211 StGB n.F., die beim Haupttäter vorliegen müssen, kennt oder wenigstens mit ihrem Vorhandensein rechnet und trotzdem seinen Tatbeitrag auch für den Fall leistet, dass sie tatsächlich vorliegen; dagegen braucht der Gehilfe die Tatbestandsmerkmale des Mordes nicht in eigener Person zu verwirklichen (vgl. BGHSt. Bd.1 S.368 ff. und Bd.2 S.251 ff.).

 

Nach der Überzeugung des Schwurgerichts sind Dr. Scheu und Struve sich bewusst gewesen, dass die Urheber der Erschiessungsaktion unter Abwägung des Für und Wider, also mit Überlegung, gehandelt hatten. Sie haben weiterhin klar erkannt, dass die Haupttäter die Erschiessung der Juden nur aus rassischer Gegnerschaft angeordnet hatten. Sie haben also ihrerseits das Erscheinungsbild, nämlich all das klar erkannt, was die Handlung der Haupttäter zum Niedrigen stempelt. Dies genügt aber für den Vorsatz des Mordgehilfen. Gleichgültig ist dabei, ob die Angeklagten die Beweggründe der Haupttäter als niedrige Beweggründe bewertet haben.

Wenn die Angeklagten sich über die Person der Haupttäter falsche Vorstellungen gemacht haben, so ist dieser Irrtum für den Gehilfenvorsatz unerheblich; denn der Gehilfe braucht die Person des Haupttäters nicht zu kennen (vgl. Mezger LK zum StGB, 8.Aufl., Anm.5b zu §49 StGB und die dort zitierten Entscheidungen).

Da die Angeklagten ihre Tatbeiträge in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken sowohl miteinander als auch mit anderen Tatgehilfen (z.B. mit Jagst 96 und Wilhelm

 

96 Siehe Lfd.Nr.511.