Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam
Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.343
was einen Irrtum über die tatsächlichen Befehlsverhältnisse gleichfalls gefördert haben kann. Bei dem Angeklagten Struve müssen in diesem Zusammenhang eine gewisse Schwerfälligkeit bei der Erfassung schwieriger Situationen und ferner der Umstand berücksichtigt werden, dass er selbst nach seiner unwiderlegten Einlassung nicht mit den (angeblich bei Dr. Scheu erschienenen) Gestapo-Beamten gesprochen hatte und sich deshalb über den genauen Inhalt des Befehls möglicherweise nicht im klaren war. Berücksichtigt man ferner die grosse Bedeutung, die in der damaligen Zeit eine Anordnung der Gestapo beigemessen wurde, so lässt sich nicht mit Sicherheit ausschliessen, dass Dr. Scheu und Struve den (angeblichen) Befehl der Gestapo irrigerweise zu weit ausgelegt haben.
Trotzdem bleibt die Tatsache, dass die Angeklagten ohne besondere Aufforderung die Leitung der Aktion übernahmen und sich mit ihren SS-Männern eigenhändig an den Erschiessungen beteiligten, anstatt die Durchführung der Exekution den anwesenden Gestapo-Beamten Schmidt und Bastian und den litauischen Freischärlern zu überlassen, ein wichtiges Indiz dafür, dass sie sich die Ziele ihrer (angeblichen) Auftraggeber völlig zu eigen gemacht haben.
Soweit es auf das Bewusstsein der Tatherrschaft ankommt, kann es nach Lage der Dinge nicht zweifelhaft sein, dass Dr. Scheu und Struve dieses Bewusstsein hatten, nachdem sie - unaufgefordert - die Leitung der Aktion übernommen hatten.
Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Dr. Scheu und Struve eigenhändig auf die Opfer geschossen haben. Denn wer einen Menschen eigenhändig tötet, ist grundsätzlich Täter, auch wenn er es unter dem Einfluss und in Gegenwart eines anderen nur in dessem Interesse tut (BGHSt. Bd.8 S.393 ff.). Dieser Grundsatz gilt allerdings nicht ausnahmslos. Er verbietet insbesondere nicht, die besondere Situation eines Menschen zu berücksichtigen, der sich unter dem Einfluss der politischen Propaganda oder der Befehlsautorität oder ähnlicher Einflüsse des eigenen Staates an einem staatlich befohlenen Mord oder Massenmord beteiligt. In solchen Fällen ist eine differenzierende Beurteilung der Teilnahmeform durchaus möglich und geboten.
Der Bundesgerichtshof hat dazu in dem sogenannten Stachynskij-Urteil folgende grundsätzliche Ausführungen gemacht (BGHSt. Bd.18 S.87 ff. (94, 95)):
"Wer ... politischer Mordhetze willig nachgibt, sein Gewissen zum Schweigen bringt und fremde verbrecherische Ziele zur Grundlage eigener Überzeugung und eigenen Handelns macht oder wer in seinem Dienst- oder Einflussbereich dafür sorgt, dass solche Befehle rückhaltlos vollzogen werden, oder wer dabei anderweit einverständlichen Eifer zeigt oder solchen staatlichen Mordterror für eigene Zwecke ausnutzt, kann sich ... nicht darauf berufen, nur Tatgehilfe seiner Auftraggeber zu sein. Sein Denken und Handeln deckt sich mit demjenigen der eigentlichen Taturheber. Er ist regelmässig Täter.
Anders kann es rechtlich jedoch bei denen liegen, die solche Verbrechensbefehle missbilligen und ihnen widerstreben, sie aber gleichwohl aus menschlicher Schwäche ausführen, weil sie der Übermacht der Staatsautorität nicht gewachsen sind und ihr nachgeben, weil sie den Mut zum Widerstand oder die Intelligenz zur wirksamen Ausflucht nicht aufbringen, sei es auch, dass sie ihr Gewissen vorübergehend durch politische Parolen zu beschwichtigen und sich vor sich selber zu rechtfertigen suchen. Es besteht kein hinreichender rechtlicher Grund, solche Menschen ausnahmslos und zwangsläufig von vornherein schon in der Beteiligungsform dem Taturheber, dem bedenkenlosen Überzeugungstäter und dem überzeugten, willigen Befehlsempfänger gleichzusetzen, zumal das Gesetz auch dem Tatgehilfen die volle Täterstrafe androht und nur eine Kannmilderung der Strafe vorsieht."
Wendet man diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall an, so sind die Angeklagten Dr. Scheu und Struve zweifellos als Täter zu beurteilen. Der festgestellte Sachverhalt lässt klar erkennen, dass Dr. Scheu und Struve bei der Erschiessungsaktion bewusst eine