Justiz und NS-Verbrechen Bd.XX

Verfahren Nr.569 - 589 (1964 - 1965)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.281

 

Lfd.Nr.579a    LG Aurich    26.06.1964    JuNSV Bd.XX S.341

 

b. Mord oder Beihilfe zum Mord (Beteiligungsform)

 

Das Verhalten der Angeklagten Dr. Scheu und Struve ist für die Tötung von mindestens 220 Juden ursächlich gewesen. Beide Angeklagten haben durch ihre bereits geschilderten Tatbeiträge wesentlich zum Gelingen der Tat beigetragen. Schon ihre blosse Anwesenheit in Uniform und in dienstlicher Eigenschaft auf dem Erschiessungsplatz, die sich über mehrere Stunden erstreckte und ersichtlich in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Erschiessungsvorgang « stand », muss als ein für den Erfolg mitursächliches Verhalten betrachtet werden, da es die Tatentschlossenheit der Beteiligten (SS-Männer und Litauer) gefördert hat (vgl. OLG Freiburg, JZ 1951 S.85). Darüber hinaus haben Dr. Scheu und Struve durch ihre Tätigkeit an dem Erschiessungstage aktiv in das Geschehen eingegriffen und hierdurch den Ablauf der Massenexekution wesentlich gefördert. Dr. Scheu hat schon auf dem Kasernengelände in Naumiestis durch seine Mitwirkung bei der Einteilung der Juden in Arbeitsunfähige und Arbeitsfähige die Erschiessungen vorbereitet. Beide Angeklagten haben sodann gemeinsam als ranghöchste Führer auf dem Erschiessungsplatz die Leitung der Aktion übernommen und durch die Einteilung von Absperrposten die Voraussetzung für einen störungsfreien Ablauf der Exekution geschaffen. Sie haben zumindest durch Stillschweigen die eigenhändige Beteiligung der ihnen unterstellten SS-Männer an den Erschiessungen geduldet und gebilligt. Schliesslich haben sie selbst auf die Opfer geschossen und durch diese stärkste Form der Beteiligung zugleich ihren Männern ein schreckliches Beispiel gegeben.

Die Angeklagten Dr. Scheu und Struve sind sich bewusst gewesen, dass sie durch ihre oben festgestellten Tatbeiträge den Ablauf der Massenerschiessung förderten; sie haben dabei mit dem Willen gehandelt, durch ihr Verhalten zu dem beabsichtigten Erfolg der Tötung der Juden beizutragen.

 

Die Angeklagten haben hierbei die Voraussetzungen sowohl des §211 StGB a.F., als auch des §211 StGB n.F. erfüllt.

Der Mordtatbestand des §211 StGB a.F. verlangt die vorsätzliche Tötung eines Menschen mit Überlegung. Mit Überlegung handelt im Sinne dieser Vorschrift, wer bei der Ausführung der Tat in genügend klarer Erwägung über den zur Erreichung seines Zweckes gewollten Erfolg der Tötung, über die zum Handeln drängenden und von diesem abhaltenden Beweggründe sowie über die zur Herbeiführung des gewollten Erfolges erforderliche Tätigkeit handelt (RGSt. Bd.42 S.262). Hiernach handelten die Angeklagten mit Überlegung.

Dr. Scheu hatte spätestens auf dem Kasernengelände in Naumiestis, Struve hatte spätestens sofort nach seinem Eintreffen auf dem Erschiessungsplatz erfahren, dass die Juden allein wegen ihrer rassischen Zugehörigkeit erschossen werden sollten. Demnach hatten beide Angeklagten zwischen dem Augenblick, in dem sie den wahren Grund der Erschiessungen erfuhren, und dem Beginn der eigentlichen Exekutionen hinreichend Gelegenheit, um das Für und Wider der Tat abzuwägen. Sie haben diese mit den Vorbereitungen für die Exekution (Einteilung der Wachmannschaften usw.) ausgefüllte Zeitspanne mit Sicherheit auch für entsprechende Gedanken benutzt, so dass sie schon bei dem Beginn der Exekutionen in genügend klarer Erwägung über die näheren Umstände der Tat mitwirkten.

 

Die Angeklagten handelten auch aus niedrigen Beweggründen im Sinne des §211 StGB n.F. Sie waren - was nach den Zeitumständen allerdings verständlich ist - der nationalsozialistischen Ideologie verfallen und daher gegenüber dem Judentum feindlich eingestellt. Sie hatten diese Einstellung schon vor der Erschiessungsaktion bei Naumiestis bewiesen, da sie sich bereitwillig an dem schmutzigen Geschäft der Zwangsverschleppung von Juden aus dem litauischen Grenzraum beteiligt hatten, um billige Arbeitskräfte für den Kreis Heydekrug zu beschaffen. Bei dem Einsatz in Naumiestis beschränkten sie ihre Mitwirkung nicht auf das (nach ihrer Vorstellung) unumgänglich Notwendige, sondern übernahmen unaufgefordert die Leitung der Aktion und setzten sich nachdrücklich für das Gelingen der Tat ein. Damit identifizierten sie sich mit dem Rassenhass der nationalsozialistischen Machthaber und machten sich die erbarmungslose Feindschaft des Nationalsozialismus gegenüber den Juden bewusst zu eigen.