Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam
Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.340
seit dem 30.Januar 1933 erlassenen Gesetzes die Höchststrafe für eine Straftat, verglichen mit der Höchststrafe für diese Straftat vor diesem Datum, verschärft wurde, grundsätzlich keine Strafe verhängen durften, die das vor dem 30.Januar 1933 zugelassene Strafmass überstieg. Die Allgemeine Anweisung an Richter war jedoch kein Gesetz in formellem Sinne und hat das deutsche Strafrecht nicht verändert. Sie ist schon mit dem Inkrafttreten des Besatzungsstatuts ausser Kraft getreten und nicht als "milderes Gesetz" im Sinne des §2 Abs.2 StGB anzusehen (BGHSt. Bd.1 S.59 ff. (66)).
dd. Die Geltung des Militärstrafrechts
Durch §1 der Verordnung über eine Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen für Angehörige der SS und für die Angehörigen der Polizeiverbände bei besonderem Einsatz vom 17.Oktober 1939 (RGBl. I S.2107) wurde für die genannten Personenkreise eine Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen eingerichtet. Für diese Sondergerichtsbarkeit fanden gemäss §2 der Verordnung die Vorschriften des Militärstrafgesetzbuches (MStGB) und der Militärstrafgerichtsordnung (MStGO) sowie ihre Einführungsgesetze sinngemäss Anwendung, soweit nicht etwas anderes bestimmt wurde; im übrigen galten bei nichtmilitärischen Straftaten die allgemeinen Strafgesetze, welche auf Wehrmachtsangehörige Anwendung fanden. Das Gebiet des besonderen Einsatzes war durch Erlass des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei vom 9.April 1940 während des Krieges für unbeschränkt erklärt worden. Nach dem Erlass galt die gesamte Sicherheitspolizei, zu der die Gestapo gehörte, einschliesslich des SD als in besonderem Einsatz befindlich. Die Rechtswirksamkeit dieses Erlasses ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes anerkannt worden (BGHSt. Bd.5 S.239 ff.).
Da das Schwurgericht die Möglichkeit nicht ausschliessen kann, dass die Massenexekutionen bei Naumiestis auf Anordnung der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) durchgeführt wurden, müssen deshalb zu Gunsten der Angeklagten Dr. Scheu und Struve die für sie günstigen Vorschriften des Militärstrafgesetzbuches, insbesondere §47 MStGB, angewendet werden. Denn wenn es sich bei dieser Judenerschiessung tatsächlich um ein Unternehmen der Gestapo handelte, waren die zur Teilnahme befohlenen SS-Angehörigen im Sinne des §155 MStGB als Gefolge der unter die SS-Sondergerichtsbarkeit fallenden Gestapo anzusehen. Dann fanden auch für sie die Vorschriften über die SS-Sondergerichtsbarkeit Anwendung. Das ergibt sich aus dem Erlass des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei über die Unterstellung des Gefolges unter die SS- und Polizeisondergerichtsbarkeit vom 17.Juli 1941 in dem es heisst:
"Während des Krieges unterliegen den Bestimmungen über die SS- und Polizeistrafgerichtsbarkeit, insbesondere den Kriegsgesetzen, alle Personen, die zur unmittelbaren Gefolgschaft einer Einheit oder Dienststelle der SS oder Polizei, für die die Sondergerichtsbarkeit eingerichtet ist, gehören und für diese Tätigkeit Gebührnisse beziehen.
Gleiches gilt im Operationsgebiet für alle Personen, die sich in irgendeinem Dienst- oder Vertragsverhältnis bei einer Einheit oder Dienststelle der SS oder Polizei, für die die Sondergerichtsbarkeit eingerichtet ist, befinden oder sich sonst bei ihr aufhalten oder ihr folgen."
Zu diesem Erlass, der den Reichsjustizbehörden durch Rundverfügung des Reichsministers der Justiz vom 11.Dezember 1941 (1051/6 - IIa 4 1772/41) bekannt gegeben wurde, hatte der Chef des Hauptamts SS-Gericht am 29.Juli 1941 Richtlinien erlassen. Danach galt die Sondergerichtsbarkeit im Operationsgebiet für alle Personen, die nach dem Wortlaut des §155 MStGB als Gefolge anzusehen waren, also auch für solche, die nicht zum Personal einer der Sondergerichtsbarkeit unterworfenen SS- oder Polizeieinheit gehörten.
Allerdings ist der Erlass des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei vom 17.Juli 1941 möglicherweise erst nach der Begehung der hier abzuurteilenden Taten ergangen. Dennoch ist er unabhängig davon, ob er auch die vor seiner Bekanntmachung begangenen Taten erfassen sollte, als milderes Gesetz im Sinne des §2 Abs.2 StGB zu Gunsten der Angeklagten anzuwenden.