Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam
Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.337
nur deshalb, weil sie Juden waren, erschossen werden sollten. Danach sind die Tatbeiträge der Angeklagten folgende:
a. Der Angeklagte Struve, der schon vor dem Beginn der Exekutionen auf dem Erschiessungsplatz anwesend war, hätte kraft seiner Befehlsgewalt über die allgemeine SS und Kraft seines Ansehens, das er als höherer SS-Führer auch bei den Grenzpolizei- und Zollbediensteten sowie bei den litauischen Partisanen genoss, sowohl die Durchführung der Erschiessungsaktion überhaupt als auch die Mitwirkung der allgemeinen SS bei den Exekutionen verhindern können. Das hat er in der Hauptverhandlung auch eingeräumt.
Struve hat jedoch von diesen Möglichkeiten keinen Gebrauch gemacht, sondern als ranghöchster SS-Führer auf dem Erschiessungsplatz die Leitung der Aktion übernommen. Er hat durch den Befehl zur Absperrung des Geländes zum störungsfreien Ablauf der Aktion beigetragen. Auch hat er veranlasst, dass die Juden nach einiger Zeit nur noch in kleineren Gruppen zum Erschiessungsplatz gefahren wurden, was ebenfalls nicht nur humanitären Erwägungen entsprang, sondern zugleich dem reibungslosen Ablauf der Aktion (vor allem der Erschwerung von Fluchtversuchen) dienen sollte und tatsächlich auch gedient hat. Durch seine Anwesenheit als ranghöchster SS-Führer hat Struve bewusst den Beteiligungswillen der übrigen am Erschiessungsplatz anwesenden Personen, insbesondere der SS-Männer, gestärkt und damit den Ablauf der ganzen Aktion wesentlich gefördert. Er hat mindestens geduldet, dass sich die ihm unterstellten SS-Männer eigenhändig an den Exekutionen beteiligten. Schliesslich hat Struve selbst mindestens einen Juden erschossen und damit den ihm unterstellten SS-Männern ein furchtbares Beispiel gegeben. Diese Tätigkeit des Angeklagten Struve ist ohne Rücksicht darauf, dass er den Erschiessungsort möglicherweise kurz vor dem Ende der Aktion verlassen hat, für die Tötung aller 220 Opfer ursächlich gewesen.
b. Der Tatbeitrag des Angeklagten Dr. Scheu beginnt schon bei der Kaserne in Naumiestis. Hier hat Dr. Scheu durch seine Beteiligung an der Auswahl der zum Arbeitseinsatz bestimmten Juden die nachfolgende Erschiessungsaktion vorbereitet und dabei Entscheidungen über Tod und Leben der festgehaltenen Juden getroffen. Seine weitere Tätigkeit liegt auf der gleichen Ebene wie das Verhalten von Struve. Dr. Scheu war nach dem Angeklagten Struve der ranghöchste Dienstgrad auf dem Erschiessungsplatz und der unmittelbare Führer der anwesenden SS-Männer. Als solcher hätte er bei dem Angeklagten Struve vorstellig werden und auf ihn einwirken können, die Durchführung der Massenexekution zu verhindern oder wenigstens die allgemeine SS aus dieser Aktion herauszuhalten. Dr. Scheu hat dies aber nicht getan, sondern gemeinsam mit dem Angeklagten Struve die Leitung der Aktion übernommen. Er hat auf Veranlassung von Struve die Absperrung der Erschiessungsstelle organisiert. Ferner hat er veranlasst, dass die jüdischen Opfer sich ihrer Jacken entledigen mussten. Er hat zumindest geduldet, dass sich seine SS-Männer an den Exekutionen beteiligten. Auch er hat durch seine stundenlange Anwesenheit am Erschiessungsplatz den Beteiligungswillen der anderen Anwesenden, insbesondere der ihm unterstellten SS-Männer, geweckt oder bestärkt und hierdurch den Ablauf der ganzen Aktion wissentlich gefördert.
Schliesslich hat er sich durch die Abgabe von Nachschüssen auf die in der Grube liegenden, bereits angeschossenen Juden und durch die Tötung von vier am Grubenrand knienden, noch unverletzten Opfern eigenhändig an den Exekutionen beteiligt.
Diese Tätigkeit des Angeklagten Dr. Scheu ist ebenso wie der Tatbeitrag des Angeklagten Struve für die Tötung von mindestens 220 Juden ursächlich gewesen.
5. Rechtliche Würdigung
a. Vorfragen
aa. Kein Verstoss gegen den Grundsatz "ne bis in idem"
Der Umstand, dass der Angeklagte Struve im Spruchkammerverfahren als "Betroffener" in Gruppe III eingestuft und mit einer Geldbusse belegt worden ist, steht seiner Verurteilung wegen der ihm zur Last gelegten Mitwirkung an der Judenerschiessung bei Naumiestis nicht entgegen. Das Verbot der Doppelbestrafung (Artikel 103 Abs.3