Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam
Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.335
schon vor der Aktion bei Naumiestis wiederholt im litauischen Grenzraum gewesen. Beide Angeklagten hatten, wie oben festgestellt worden ist, an einer "Beutefahrt" nach Tauroggen teilgenommen. Der Angeklagte Dr. Scheu hatte ausserdem die in der Zeit vom 27. bis 29.Juni 1941 durchgeführten "Judenbeschaffungsaktionen" in Sveksna, Vevirzeniai, Kvedarna und Laukova geleitet. Auch der Angeklagte Struve hatte sich an einer solchen Aktion (Kvedarna) beteiligt. Bei diesen Fahrten waren die Angeklagten, wie sie selbst einräumen, mehrfach mit litauischen Schaulisten zusammengekommen, die ihnen grosszügig Hilfe gewährten. Diese Partisanen waren aber sicherlich über die im Grenzraum angelaufenen Massnahmen zur Vernichtung der Juden unterrichtet, zumal wiederholt solche Partisaneneinheiten von den Angehörigen des Einsatzkommandos Stapo- und SD-Abschnitt Tilsit zur Hilfeleistung bei den Massenexekutionen herangezogen worden waren. Die Litauer werden auch bestimmt keinen Grund gehabt haben, Dr. Scheu und Struve ihr Wissen über diese Massnahmen zu verschweigen. Es liegt daher ausserordentlich nahe, dass Dr. Scheu und Struve schon vor der Aktion bei Naumiestis, wenn nicht von dem allgemeinen Plan der deutschen Führung, das Judentum in Litauen auszurotten, so doch zumindest von der Tatsache Kenntnis erhalten hatten, dass die Juden im besetzten Litauen praktisch Freiwild waren.
Im übrigen lässt sich Dr. Scheu selbst dahin ein, dass die beiden Gestapo-Beamten, die ihn angeblich aufgesucht haben, zwar von einer Aktion gegen Heckenschützen und Partisanen gesprochen, zugleich aber auch erwähnt hätten, dies sei noch einmal eine Gelegenheit, Arbeitskräfte für den Landrat zu beschaffen; möglicherweise hätten sie auch von Juden gesprochen. Wenn dieses Gespräch so stattgefunden hat, wie es Dr. Scheu selbst schildert, dann musste sich ihm bereits bei dieser Unterredung die Erkenntnis aufdrängen, dass die geplante Aktion in Wirklichkeit nicht die Bekämpfung von Heckenschützen und Partisanen zum Ziele hatte, sondern dass die Leute nur deshalb, weil sie Juden waren, vernichtet werden sollten. Denn die Äusserung, dies sei die letzte Gelegenheit, um Arbeitskräfte für den Landrat zu beschaffen, deutete darauf hin, dass im benachbarten Grenzgebiet eine Aktion gegen das Judentum im Gange war. Ausserdem ist es unwahrscheinlich, dass der Angeklagte Dr. Scheu glaubte, die Gestapo werde die Verbringung jüdischer Partisanen, die um Rücken der kämpfenden Truppe Sabotageakte begangen hatten, in das Reichsgebiet zulassen, wo diese Leute eine günstige Gelegenheit zu weiteren Sabotageakten gehabt hätten. Gegen Dr. Scheu besteht daher schon auf Grund seiner eigenen Einlassung der starke Verdacht, dass er bereits in dem Zeitpunkt, in dem er von dem bevorstehenden Einsatz erfuhr, auch die Kenntnis erhielt, dass sich die Aktion nicht gegen Heckenschützen oder Partisanen, sondern gegen ungefährliche jüdische Landeseinwohner, die nichts verbrochen hatten, richten würde. Der gleiche Verdacht besteht auch gegen den Angeklagten Struve, weil mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass Dr. Scheu ihn bei dem festgestellten Telefongespräch über Anlass und Zweck des bevorstehenden Einsatzes genau unterrichtet hat.
Spätestens hat Dr. Scheu aber bei seinem Aufenthalt auf dem Kasernengelände in Naumiestis die sichere Kenntnis erlangt, dass die (nicht zur Arbeit bestimmten) Juden allein wegen ihrer rassischen Zugehörigkeit erschossen werden sollten. Wie Dr. Scheu selbst einräumt, erkannte er auf dem Kasernenplatz, dass "die Mehrzahl der festgehaltenen Leute Juden waren"; ausserdem wurde "dort von einer Erschiessung gesprochen". Wie das Schwurgericht festgestellt hat, beteiligte sich Dr. Scheu selbst massgeblich an der Einteilung der Juden in Arbeitsfähige und Arbeitsunfähige.
Wenn er die Einteilung nicht von vornherein selbst vornahm, überprüfte er jedenfalls die beiden Gruppen und schickte noch einzelne Leute von der einen auf die andere Seite. Nach den Umständen besteht kein Zweifel, dass Dr. Scheu bei dieser Gelegenheit sicher erfahren hat, dass die arbeitsunfähigen Juden erschossen werden sollten. Hiernach war es Dr. Scheu schon auf dem Kasernenhof klar, dass die Einteilung der Juden in Arbeitsfähige und Arbeitsunfähige eine Entscheidung über Tod und Leben bedeutete. Die Kenntnis von der Tatsache, dass die Auswahl der zur Erschiessung vorgesehenen Juden nach dem Grade ihrer Arbeitsfähigkeit getroffen wurde, war aber mit der Annahme, dass es sich um eine Aktion gegen Heckenschützen und Saboteure handelte, schlechterdings unvereinbar. Denn es musste dem Sinn einer solchen Sicherungsmassnahme