Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam
Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.334
eine Wiederherstellung ihres Freistaates. Die deutsche Sicherheitspolizei brachte es daher mit einigem Geschick sehr bald fertig, die freiheitsliebende litauische Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen und den Hass gegen die jüdischen Einwohner zu schüren. Dies geht aus den Berichten des SS-Brigadeführers Dr. Stahlecker vom 15.Oktober 1941 und des SS-Standartenführers Jäger vom 1.Dezember 1941 deutlich hervor. Auch die Vernichtungsaktionen des Einsatzkommandos Stapo- und SD-Abschnitt Tilsit, die durch den Ulmer Prozess 90 bekannt geworden sind, beleuchten die einträchtige Zusammenarbeit der zuständigen deutschen Stellen mit den örtlichen litauischen Machthabern bei der Ausrottung des Judentums im deutsch-litauischen Grenzraum. Für die Annahme, dass die Massenerschiessung bei Naumiestis auf eine litauische Initiative zurückzuführen, aber mit deutscher Billigung und Unterstützung vorbereitet und durchgeführt worden ist, spricht insbesondere die Aussage des Zeugen Wilhelm Schmidt. Obgleich nicht zu verkennen ist, dass die Glaubwürdigkeit dieses Zeugen, der wegen seiner Beteiligung an der Erschiessungsaktion bereits rechtskräftig verurteilt 91 worden ist, mit Vorsicht bewertet werden muss, hat seine Darstellung über den Ursprung der Aktion doch manches für sich.
Da sich hiernach die verantwortlichen Urheber für die Massenexekution bei Naumiestis nicht feststellen lassen, hat das Schwurgericht die Einlassungen der Angeklagten Dr. Scheu und Struve über den befehlsmässigen Hintergrund der Aktion folgendermassen gewürdigt:
Die Einlassung des Angeklagten Dr. Scheu, dass er einen Auftrag der Gestapo erhalten habe, die Heydekruger SS für Absperr- und Hilfsmassnahmen bei einer Aktion gegen Heckenschützen und Partisanen im Raum Neustadt einzusetzen, ist nicht zu widerlegen.
Die insoweit übereinstimmenden Einlassungen der Angeklagten Dr. Scheu und Struve rechtfertigen die Feststellung, dass Dr. Scheu vor der Alarmierung der SS für den Einsatz im Raum Neustadt telefonisch das Einverständnis des Angeklagten Struve erbeten und erhalten hat.
Die Einlassung des Angeklagten Struve, Dr. Scheu habe ihn telefonisch davon unterrichtet, dass die Gestapo Männer für Absperr- und Hilfsmassnahmen angefordert habe, ist nicht zu widerlegen. Dasselbe gilt für seine Behauptung, der Reiterinspekteur Bösel habe ihm auf Anfrage mitgeteilt, die Sache müsse durchgeführt werden; es seien Leute abzustellen und den Anordnungen der Gestapo Folge zu leisten.
Aber auch wenn man davon ausgeht, dass die Angeklagten Dr. Scheu und Struve die Massenexekution bei Naumiestis auf eine Anordnung der Gestapo zurückführten, besteht doch kein Zweifel daran, dass sie sich zur Zeit der Tat über den verbrecherischen Zweck der Judenerschiessung völlig im klaren waren. Denn Dr. Scheu erkannte spätestens auf dem Kasernengelände in Naumiestis, Struve erfuhr spätestens bei seiner Ankunft auf dem Erschiessungsplatz, dass die Juden allein wegen ihrer rassischen Zugehörigkeit und ohne ein vorausgegangenes gerichtliches Verfahren getötet würden, welches den Opfern die Gewähr für eine genaue Untersuchung, für eine ausreichende Verteidigung, für ein rechtliches Gehör und für ein objektives Urteil eines befehlsunabhängigen Gerichts gegeben hätte.
Nach den Umständen besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass Dr. Scheu und Struve schon geraume Zeit vor dem Erschiessungstage von dem Plan der allgemeinen Vernichtung des Judentums im besetzten Litauen Kenntnis hatten. Denn das Einsatzkommando Stapo- und SD-Abschnitt Tilsit hatte bereits in den ersten Tagen nach Beginn des Russlandfeldzuges eine Reihe von Massenerschiessungsaktionen im benachbarten litauischen Grenzraum durchgeführt, bei denen jeweils Hunderte von Juden getötet wurden (so am 24. oder 25.Juni in Garsden, am 26.Juni in Krottingen, am 30.Juni in Polangen, am 2.Juli in Tauroggen und am 3.Juli in Georgenburg). Da diese Erschiessungsaktionen in unmittelbarer Nähe der Reichsgrenze stattfanden, liegt die Vermutung nahe, dass sie sich in der Bevölkerung schnell herumsprachen. Ausserdem unterhielten Dr. Scheu und Struve auf Grund ihrer beruflichen Stellung bzw. ihrer Stellung in der SS Verbindungen zu den verschiedensten Behörden und Parteidienststellen. Es ist daher naheliegend, dass sie hierdurch von den in Gang befindlichen Massnahmen zur Vernichtung des Judentums erfuhren. Schliesslich waren Dr. Scheu und Struve