Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam
Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.333
SS aus Heydekrug und die Grenzpolizeibeamten Schmidt und Bastian beauftragt hatte. Da zwischen der Massenexekution bei Naumiestis und den Erschiessungsaktionen des Einsatzkommandos Stapo- und SD-Abschnitt Tilsit ein zeitlicher und räumlicher Zusammenhang besteht, liegt die Annahme nahe, dass die Stapostelle Tilsit auch bei dieser Aktion ihre Hand im Spiele hatte. Ausserdem zeigen sich bei der Aktion in Naumiestis auffallende Parallelen zu den Erschiessungsaktionen, die Gegenstand des Ulmer Prozesses 89 waren. So besteht eine grosse Ähnlichkeit in der Vorbereitung, Durchführung und Abwicklung der Aktion. Alles war auf das beste organisiert. Die Grube war ausgehoben. Die Opfer mussten Geld und Wertsachen abgeben und ihre noch brauchbare Oberbekleidung ablegen. Dann wurden sie gruppenweise an den Grubenrand geführt, mussten dort niederknien und erhielten Genickschüsse, damit sie ohne Nachhilfe in die Grube stürzten. Die Erschiessungsaktion spielte sich also nach dem gleichen Schema und mit der gleichen Brutalität ab wie die Aktionen, die von dem Einsatzkommando Stapo- und SD-Abschnitt Tilsit durchgeführt worden sind. Die Begleitumstände der Aktion deuten somit auf eine Mitwirkung der Stapostelle Tilsit hin.
Zwar sprechen die Aussagen der Zeugen Böhme, Hersmann, Kreuzmann, Krumbach, Harms, Gerke und Sakuth gegen eine solche Mitwirkung. Sie sind aber im Hinblick auf das naheliegende Interesse dieser Zeugen, mit weiteren Aktionen nicht belastet zu werden, kein geeignetes Beweismittel, um die Möglichkeit einer befehlsmässigen Urheberschaft der Stapostelle Tilsit auszuschliessen.
Gegen eine Mitwirkung der Stapostelle Tilsit sprechen jedoch die bei der Kaserne in Naumiestis vorgenommene Trennung von arbeitsfähigen und nicht arbeitsfähigen Juden und der Abtransport der arbeitsfähigen Männer nach Heydekrug. Diese Massnahmen standen im offenen Widerspruch zu den von höchster Stelle erlassenen Bestimmungen für die "Sonderbehandlung" der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Ostgebieten und dem strengen Gebot, den zur Vernichtung bestimmten Juden den Übertritt über die Reichsgrenze zu verwehren. Wenn die Stapostelle Tilsit bei dieser Aktion ihre Hand im Spiele hatte, verstiess sie gegen ihre Aufgabe, sämtliche Juden in dem 25 km breiten Grenzstreifen zu vernichten.
Schliesslich lässt auch die Tatsache, dass bei der Massenerschiessung Einheiten der allgemeinen SS mitgewirkt haben, Zweifel daran aufkommen, ob es sich hier um eine der üblichen Erschiessungsaktionen im Rahmen der Tätigkeit des Einsatzkommandos Stapo- und SD-Abschnitt Tilsit gehandelt hat. Denn die allgemeine SS ist bei den zahlreichen Massenerschiessungen, die von diesem Einsatzkommando ausgeführt worden sind, sonst in keinem Fall hinzugezogen worden.
2. Es ist auch möglich, dass Angehörige der an sich ausserhalb des 25 km breiten Grenzstreifens operierenden Einsatzgruppe A nach Naumiestis gekommen sind und dort eine von Litauern (Partisanen oder Hilfspolizisten) im Zusammenwirken mit den deutschen Grenzpolizeibehörden durchzuführende Massenerschiessung angeordnet und vorbereitet haben. Allerdings macht die Tatsache, dass die Erschiessungsaktion bei Naumiestis in dem oben wiedergegebenen Bericht des SS-Standartenführers Jäger vom 1.Dezember 1941 nicht erwähnt worden ist, diese Möglichkeit verhältnismässig unwahrscheinlich.
3. Ferner besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Heydekruger SS unter Führung von Dr. Scheu und Struve und mit Billigung des kommissarischen Landrats Schm. im Bunde mit litauischen Stellen und den zuständigen Grenzpolizeibehörden, insbesondere unter tatkräftiger Mithilfe des Zeugen Wilhelm Schmidt, im Zusammenhang mit der Zwangsverschleppung jüdischer Arbeitskräfte nach Heydekrug eine "wilde" Erschiessungsaktion ohne Wissen der hierfür zuständigen Stapostelle Tilsit vorgenommen hat.
4. Die grösste Wahrscheinlichkeit hat indessen die Annahme für sich, dass es sich um eine litauische Aktion mit Billigung und Unterstützung deutscher Stellen (etwa des Postenführers Schwarz aus Laugszargen) gehandelt hat. Eine litauische Initiative lag in der damaligen Situation durchaus nahe. Litauen hatte etwa ein Jahr unter sowjetischer Herrschaft gestanden. Die deutschen Truppen wurden daher bei ihrem Einmarsch vielerorts als Befreier begrüsst. Die Litauer erhofften sich von den Deutschen
89 Siehe Lfd.Nr.465.