Justiz und NS-Verbrechen Bd.XX

Verfahren Nr.569 - 589 (1964 - 1965)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.281

 

Lfd.Nr.579a    LG Aurich    26.06.1964    JuNSV Bd.XX S.330

 

Zeugen übereinstimmend bekundet worden.

 

3. Die Frage nach dem befehlsmässigen Ursprung der Erschiessungsaktion und die Vorstellungen der Angeklagten Dr. Scheu und Struve über die Gründe der Massenexekution

 

Das Schwurgericht hat sich in der Hauptverhandlung besonders mit der Frage beschäftigen müssen, von welcher Seite die Initiative zu der Erschiessungsaktion bei Siaudvyciai ausgegangen ist, ob die Angeklagten Dr. Scheu und Struve die Urheber waren oder ob sie auf fremden Befehl gehandelt haben und welche Vorstellungen die Angeklagten über die Gründe der Massenexekution gehabt haben.

In dieser Fragestellung unterscheidet sich das Verfahren wesentlich von den in Ulm und Dortmund geführten Schwurgerichtsprozessen 87 gegen die Angehörigen des Einsatzkommandos Stapo- und SD-Abschnitt Tilsit, bei denen die Urheberschaft für die Vernichtungsaktionen zweifelsfrei feststand und zu den führenden Männern des damaligen Systems (Hitler, Göring, Himmler, Heydrich) hinaufführte.

Die Angeklagten Dr. Scheu und Struve haben sich hierzu folgendermassen eingelassen:

 

a. Dr. Scheu

 

Am Dienstag vor der Erschiessungsaktion wären zwei uniformierte Gestapo-Beamte zu ihm gekommen. Der eine sei aus Heydekrug und ihm, Dr. Scheu, bekannt gewesen (Bastian oder Wilhelm Schmidt?). Er wisse aber nicht mehr, wer es gewesen sei. Der andere sei wohl aus Tilsit gekommen. Er, Dr. Scheu, habe die Männer am SD-Abzeichen als Gestapo-Beamte erkannt. Die Männer hätten gesagt, sie hätten einen Befehl der Gestapo, dass die Heydekruger SS bei einer Aktion gegen Heckenschützen und Partisanen im Raum Neustadt bei Absperr- und Hilfsmassnahmen mitwirken müsse. Sie hätten ihm den Zeitpunkt der Aktion mitgeteilt und den Grenzübergang Kolleschen als Treffpunkt bestimmt. Die Männer hätten von Sabotageakten und heimtückischen Anschlägen gegen deutsche Soldaten gesprochen und dabei erwähnt, das sei noch einmal eine Gelegenheit, Arbeitskräfte für den Landrat zu beschaffen. Es könne sein, dass sie auch von Juden gesprochen hätten. Er, Dr. Scheu, habe hierauf erwidert, er könne das nicht selbst entscheiden, sondern müsse es seiner Standarte vorlegen. Er habe dann sofort bei der Standarte angerufen und mit dem diensttuenden Oberscharführer gesprochen. Er habe diesem alles genau geschildert und ihn gebeten, Struve zu verständigen. Ein bis zwei Tage später habe er einen Anruf von Struve erhalten. Dieser habe sich alles noch einmal erklären lassen und dann sinngemäss gesagt: "Ich komme selbst, wir müssen das machen. Bereiten Sie beim Landrat alles vor." Struve und er hätten bei diesem Gespräch gleichfalls den Grenzübergang Kolleschen als Treffpunkt vereinbart. Danach habe er, Dr. Scheu, dem kommissarischen Landrat Schm. von der beabsichtigten Aktion der Gestapo berichtet, ihm auch den Zeitpunkt der Aktion mitgeteilt und mit ihm die Gestellung von ein bis zwei Lastkraftwagen vereinbart. Im übrigen habe er sich über die Aktion keine Gedanken gemacht. Er habe geglaubt, dass er aus gefangenen Partisanen oder Heckenschützen Arbeitskräfte für den Kreis Heydekrug bekommen könnte. Von der damals bereits angelaufenen Grossaktion zur Vernichtung des Judentums in den besetzten Ostgebieten habe er zu dieser Zeit noch nichts gewusst.

 

Am Vormittag des Erschiessungstages habe er in Kolleschen den Angeklagten Struve getroffen. Dieser habe ihm befohlen, zur Kaserne in Neustadt zu fahren und dort die Übernahme der Arbeitskräfte vorzubereiten. Struve sei selbst zur Kaserne mitgefahren. Es sei erkennbar gewesen, dass die Mehrzahl der an der Kaserne festgehaltenen Männer Juden waren. Vielleicht habe er, Dr. Scheu, an der Kaserne erfahren, dass eine Erschiessung stattfinden sollte; jedenfalls sei von einer Erschiessung gesprochen worden. Während er noch an der Kaserne beschäftigt gewesen sei, sei Struve mit etwa zehn Mann fortgefahren. Vorher habe er ihm, Dr. Scheu, aufgetragen, die Arbeitskräfte für den Landrat zu übernehmen und so schnell wie möglich nachzukommen. Er, Dr. Scheu, habe Jagst mit der Bewachung und Registrierung der jüdischen Arbeitskräfte beauftragt. Dann sei er mit seinem Personenkraftwagen auf derselben Strasse, auf

 

87 Siehe Lfd.Nr.465, 521 und 547.