Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXIV

Verfahren Nr.732 - 746 (1970 - 1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.734a LG Braunschweig 12.06.1970 JuNSV Bd.XXXIV S.297

 

Lfd.Nr.734a    LG Braunschweig    12.06.1970    JuNSV Bd.XXXIV S.321

 

selbstverständlichen Grundsätze verleugnet, die nach allgemeiner Rechtsüberzeugung das Verhalten der Menschen zueinander zu bestimmen haben, ist in hohem Masse sittlich verachtenswert und verabscheuungswürdig und muss darum als niedrig bezeichnet werden. Wird eine solche Gesinnung zum Beweggrund für eine Tötung, dann ist der Beweggrund niedrig im Sinne des §211 StGB" (so auch für den vorliegenden Fall zutreffend BGHSt. 3, 271). Hätte den verantwortlichen Personen im WVHA bzw. RSHA eine derartige Gesinnung gefehlt, so hätte die Anordnung unschwer dahin ergehen können, dass die geflohenen und wiederergriffenen Häftlinge in einem Strafverfahren abzuurteilen seien.

 

3) Nach Abwägung der Gesamtumstände, insbesondere unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Angeklagten, seines Werdeganges vor und nach dem Eintritt in die SS, seiner Zugehörigkeit zu den Totenkopfverbänden, der zu seiner Ernennung als Lagerleiter und als Kommandant führenden Umstände, seines Verhaltens gegenüber den Häftlingen insgesamt, seiner inneren Einstellung ihnen gegenüber und auch des Missverhältnisses zwischen den Taten der Opfer und den Exekutionen (vgl. BGH NJW 1953, 1440) ist das Schwurgericht überzeugt, dass der Angeklagte beim Erlass der einzelnen Exekutionsbefehle nicht aus einem niedrigen Beweggrund gehandelt hat. Nach den getroffenen Feststellungen erliess er diese Befehle und liess sie vollstrecken, allein weil ihm durch die Anordnung vom 11.9.1944 ohne Einräumung eines Ermessensspielraumes befohlen worden war, jeden geflohenen Häftling zu exekutieren und er sich aus einer falsch verstandenen Gehorsamspflicht heraus an diese Anordnung gebunden fühlte. Sein daneben bestehendes eigenes Interesse an der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in den Lagern ist kein niedriger Beweggrund im Sinne von §211 StGB. Aus diesem Eigeninteresse hätte er allein von sich aus die Tötungen nicht veranlasst. Im übrigen ist das Unwerturteil, aus einem niedrigen Beweggrund gehandelt zu haben, unangebracht gegenüber einem Angeklagten, dem die Befolgung eines Befehls in Dienstsachen in Kriegszeiten - wie er nach den folgenden Ausführungen hier vorliegt - zum Vorwurf gemacht wird, auch wenn er zur Nichtbefolgung verpflichtet war und deshalb bestraft werden müsste (vgl. BGH 4 StR 438/58, Urteil vom 13.3.1959, S.36 122). Es hat sich kein Anhalt dafür ergeben, dass die Tötungen etwa grausam im Sinne von §211 StGB erfolgten, dass also den Opfern aus gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung besondere Schmerzen oder Qualen zugefügt worden seien, und zwar unter den die Tötung einleitenden oder vollziehenden Umständen (vgl. BGH 4 StR 272/68, Urteil vom 5.2.1970 123; BGH 5 StR 308/69, Urteil vom 7.4.1970 124). Ebensowenig hat sich ein Anhalt dafür ergeben, dass die Tötungen heimtückisch, also unter bewusster Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit erfolgten. Die Opfer sind nicht in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch gehindert worden, sich zu verteidigen, zu fliehen, Hilfe herbeizurufen, den Angreifer umzustimmen, in sonstiger Weise dem Anschlag auf ihr Leben zu begegnen oder die Durchführung wenigstens durch solche Bemühungen zu erschweren (vgl. BGHSt. 11, 139, 143; BGH 4 StR 438/58, Urteil vom 13.3.1959). Nach dem Wiederergreifen rechneten die Opfer mit einer Bestrafung. Sie wussten auch, dass die vergebliche Flucht ihr Leben kostete, nachdem der Angeklagte ihnen unmittelbar nach dem Erlass der Anordnung vom 11.9.1944 für einen Fluchtversuch die Todesstrafe angedroht hatte. Das Schwurgericht hat nach eingehender Prüfung auch keinen Anhalt für eines der anderen Merkmale des §211 StGB gefunden.

 

4) Die Tötungen waren rechtswidrig. Ein Rechtfertigungsgrund liegt nicht vor. Er ist insbesondere nicht in der Anordnung vom 11.9.1944 zu finden, da diese Anordnung mit dem in ihr enthaltenen Befehl, jeden geflohenen KL-Häftling ohne Gerichtsurteil zu exekutieren, gegen die im Bewusstsein aller zivilisierter Völker als unantastbar angesehenen

 

122 = JuNSV Bd.XVI S.232.

123 Siehe Lfd.Nr.648b.

124 Siehe Lfd.Nr.670b.