Justiz und NS-Verbrechen Bd.XX

Verfahren Nr.569 - 589 (1964 - 1965)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.281

 

Lfd.Nr.579a    LG Aurich    26.06.1964    JuNSV Bd.XX S.321

 

und kamen nachher zusammen mit den dort festgehaltenen arbeitsfähigen Juden aus Naumiestis zum Arbeitseinsatz in den Kreis Heydekrug. Die Gruppe der übrigen Juden wurde auf dem Erschiessungsplatz bei Siaudvyciai erschossen. Die älteren und kranken Juden aus Vainutas, die den Weg nicht zu Fuss laufen konnten, wurden im Laufe des Nachmittags von litauischen Partisanen auf einem Pferdewagen zum Erschiessungsplatz gefahren und dort nach ihrer Ankunft ebenfalls erschossen.

 

Die Exekutionen auf dem Erschiessungsplatz bei Siaudvyciai begannen etwa um die Mittagszeit. Die Opfer, die an ihren Rassemerkmalen, ihren Bärten und ihrer Kleidung unschwer als Juden zu erkennen waren, mussten sich nach ihrer Ankunft am Erschiessungsplatz zunächst in etwa 20 bis 50 m Entfernung von der Grube aufstellen. Hier nahm ihnen der Zeuge Wilhelm Schmidt das Geld und die Wertsachen (Uhren, Schmuck, Ringe usw.) ab. Ferner mussten sie das noch brauchbare Schuhwerk ablegen. Endlich nahm man ihnen auf eine entsprechende Anordnung von Dr. Scheu auch die Jacken ab, die für die arbeitsfähigen Juden in Heydekrug Verwendung finden sollten. Dann wurden die Juden in Gruppen von sechs bis zehn Mann an den Rand der Grube geführt, wo sie auf dem Erdwall mit dem Gesicht zur Grube niederknien mussten. Sie wurden dort durch Genickschüsse getötet. Ihre Körper fielen meist ohne fremdes Zutun in die Grube. Ein Zöllner oder ein litauischer Zivilist rückte mit einer Stange die in der Grube liegenden Leichen zurecht.

Zumindest am Anfang der Aktion sahen die auf ihre eigene Erschiessung wartenden Juden die Erschiessung ihrer Vorgänger mit an. Das missfiel dem Angeklagten Struve. Dieser sagte zu Dr. Scheu, er möge dafür sorgen, dass die Juden nur in Gruppen von jeweils 10 bis 12 Mann zum Erschiessungsort gefahren würden. Dr. Scheu befahl darauf dem bei der Kaserne tätigen Angeklagten Jagst, die Verladung der Juden zu überwachen und sie nur in Gruppen von 10 bis 12 Mann an den Erschiessungsort zu schicken. Entweder fuhr Dr. Scheu selbst mit seinem Kraftwagen zur Kaserne, um Jagst diesen Befehl zu geben, oder er liess ihn Jagst durch einen Boten übermitteln. Wenn er selbst zur Kaserne fuhr, kehrte er auf jeden Fall alsbald zum Erschiessungsplatz zurück.

 

Die jüdischen Opfer, unter denen sich 15- bis 16jährige Kinder und Greise befanden, gingen in der Mehrzahl ruhig und gefasst dem Tode entgegen. Nur vereinzelt wurde gejammert, so vor allem, wenn mehrere Mitglieder einer Familie gleichzeitig erschossen wurden. Manche beteten vor ihrem Tode. Mehrmals kam es vor, dass bereits in die Grube gestürzte Opfer durch Schreie und Bewegungen noch Lebenszeichen von sich gaben. Einige schrien: "Schiesst mich doch tot!" oder: "Macht ein Ende!", bis einer der Schützen sie durch einen Nachschuss von ihren Leiden erlöste.

Während der Erschiessungsaktion kam es mindestens einmal, möglicherweise auch zweimal, zu einem Fluchtversuch. Der Flüchtende lief in ein Kornfeld, wurde aber von den Verfolgern, die hinter ihm herschossen, getroffen. Darauf mussten die an der Exekutionsstelle versammelten Juden vor ihrer eigenen Erschiessung den Flüchtling an die Grube schleppen und ihn hineinwerfen.

 

Die Angeklagten Dr. Scheu und Struve waren die ranghöchsten Führer am Erschiessungsplatz. Sie übernahmen - wahrscheinlich aus eigenem Entschluss - die Leitung der Aktion.

Ausser ihnen waren mehrere Angehörige des SS-Reitersturmes 2/20 und des Sturmbannes II/105 - darunter der Unterscharführer Kaulitzki, ein namentlich nicht bekannter Rottenführer mit dem EK I aus dem ersten Weltkrieg und wahrscheinlich auch der Zeuge F. - und eine grössere Anzahl litauischer Zivilisten mit weissen Armbinden (Freischärler oder Hilfspolizisten) am Erschiessungsplatz anwesend. Ferner hielt sich dort der gerade auf Urlaub befindliche Zahnarzt Br. (Zeuge), ein Schulfreund und Jagdgenosse von Dr. Scheu, in der Uniform eines Kriegszahnarztes des Heeres auf. Schliesslich waren ein oder mehrere Zollbedienstete, darunter der als Hilfszöllner beschäftigte Studienrat Og. (Zeuge) aus Heydekrug, zumindest vorübergehend am Erschiessungsplatz anwesend.

Von der Gestapo (Grenzpolizei) nahmen nur der Zeuge Wilhelm Schmidt 84, der Angeklagte Bastian und möglicherweise auch ein Kriminalassistent Meierl, der damals im

 

84 Siehe Lfd.Nr.511.