Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXIV

Verfahren Nr.732 - 746 (1970 - 1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.734a LG Braunschweig 12.06.1970 JuNSV Bd.XXXIV S.297

 

Lfd.Nr.734a    LG Braunschweig    12.06.1970    JuNSV Bd.XXXIV S.319

 

b) In allen Exekutionsbefehlen gegen die "Fluchtjuden" hat der Angeklagte ausschliesslich auf die Anordnung vom 11.9.1944 Bezug genommen. Er hat in keinem Falle darüber hinaus eine besondere Einzelanordnung des WVHA oder des RSHA als Grundlage seiner Entscheidung angeführt. Nach der zuletzt gegebenen Darstellung des Angeklagten wäre aber gerade nur diese Einzelanordnung die Grundlage für die Exekution, also das "Urteil" nach damaligem Sprachgebrauch, gewesen, das dem Häftling nach den gültigen Exekutionsbestimmungen bekanntzumachen war. Der Angeklagte hätte daher die Einzelanordnungen in seinen Exekutionsbefehlen anführen müssen und auch angeführt, wenn sie ergangen wären, so wie er sich im Falle Schwalke auf einen Befehl des RFSS berufen hat. Schon das Fehlen einer derartigen Bezugnahme auf eine Einzelanordnung und die alleinige Berufung auf die Anordnung vom 11.9.1944 lässt daher den Schluss zu, dass der Angeklagte (in Übereinstimmung mit seinen Aussagen bei dem Haftrichter, der Staatsanwaltschaft und dem Untersuchungsrichter) von sich aus selbständig die Exekutionen in den genannten Fällen befehlen und durchführen lassen durfte und auch musste, wobei er lediglich gehalten war, das WVHA später von dem Vorgang zu unterrichten.

 

Gegen die zuletzt gegebene Darstellung des Angeklagten spricht weiter, dass die Exekutionen von Grossmann und von Kiss noch am Nachmittag des Tages durchgeführt wurden, an dem die Exekutionsbefehle ergingen. Ähnliches gilt für die Fälle Blau und Grünfeld. Gegen beide ergingen einen Tag nach der Flucht Exekutionsbefehle und beide wurden am Morgen des darauffolgenden Tages exekutiert. Für die insoweit vom Angeklagten zuletzt gegebene Darstellung des Vorgangs bestehen keinerlei Anhaltspunkte.

 

c) Der Sachverständige hat sich in seinem Gutachten, dem sich das Schwurgericht nach eingehender kritischer Prüfung und unter eigener Meinungsbildung anschliesst, auch damit auseinandergesetzt, inwieweit die Zuständigkeit des Angeklagten als Lagerkommandant durch die Anordnung erweitert worden sei, ob es sich um einen eindeutigen Befehl gehandelt habe, nach dem der Angeklagte wiederergriffene Häftlinge ohne Einzelgenehmigung durch das WVHA hinrichten zu lassen habe, oder aber ob die Verhängung der Todesstrafe in das Ermessen des Angeklagten gestellt worden sei. Der Sachverständige ist in seinem Gutachten zu dem Ergebnis gekommen, dass die Anordnung vom 11.9.1944 dem Angeklagten keinen Ermessensspielraum gelassen habe, sondern dass ihm bindend vorgeschrieben worden sei, wie er in Fluchtfällen zu handeln habe. Dabei hat der Sachverständige den insoweit gleichlautenden Wortlaut der Exekutionsbefehle: "Gem. Anordnung. befehle ich hiermit die Exekution ... durch den Strang" unter Berücksichtigung der in der SS üblichen Sprachregelung herangezogen, ferner den Umstand, dass den Lagerkommandanten auch die Beantragung bestimmter Strafen für bestimmte Delikte bindend vorgeschrieben war, dass im Herbst 1944 auch bei der Euthanasie die zentrale Leitung gelockert wurde und die Entscheidung über Leben und Tod praktisch dem Lagerarzt oblag, dass die Verhältnisse im Reich sich zur damaligen Zeit erheblich verschlechtert hatten und eine Art Untergangsstimmung bei den führenden Dienststellen entstanden war, was zur "äussersten Härte" in ihren Massnahmen und Forderungen führte, dass bereits im Frühjahr 1944 nach den "Richtlinien zur Bekanntgabe an die Leiter der Politischen Abteilungen bei der Besprechung am 23.März 1944" die Bestrafung eines wiederergriffenen Häftlings mit der Todesstrafe durchaus nichts Ungewöhnliches war, dass durch Erlass Kaltenbrunners als CSSD vom 6.2.1945 die Zuständigkeit der Lagerkommandanten sogar dahin erweitert wurde, dass sie von sich Todesurteile gegen Ostarbeiter anordnen und vollstrecken lassen konnten und dass die Weisung erteilt worden war, keinen Häftling lebend in Feindeshand fallen zu lassen. Das Schwurgericht hat keinen Zweifel an der Sachkunde des Universitätsdozenten und Bibliothekars i.R. Dr.phil. Hans-Günther Ser.: Er ist bereits ab 1946 als historischer Sachverständiger der Verteidigung bei den Nürnberger Prozessen tätig gewesen, hat dann in Göttingen die Forschungsstelle für Zeitgeschichte bei der Universität Göttingen aufgebaut, ist seit 1958 laufend als Sachverständiger in Strafverfahren, vor allem wie dem vorliegenden tätig, in denen der Schwerpunkt beim Wesen und bei den Eigenarten der SS und der KL liegt. Seine Forschungen stützt er