Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam
Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.319
alarmieren. Die SS-Männer versammelten sich, soweit sie aus Heydekrug und der näheren Umgebung kamen, auf einem bestimmten Platz in Heydekrug, wahrscheinlich auf dem Hof der Volksschule. Unter den versammelten SS-Leuten, deren Zahl das Schwurgericht nicht genau feststellen konnte, befanden sich u.a. der Angeklagte Jagst, der Zeuge Wal. und die damals erst 17jährigen Oberschüler Pr. und Balt., die trotz ihrer Jugend aus dem MOD in die SS überführt worden waren. Die Männer trugen schwarze SS-Uniformen. Sie waren zum Teil bewaffnet. Ausserdem brachte Dr. Scheu, der mit einem Personenkraftwagen gekommen war, einige Gewehre mit, die er (auf dem Versammlungsplatz oder später) an seine Leute verteilte. Dr. Scheu unterrichtete die SS-Männer, dass sie an einer Aktion gegen "Saboteure" teilzunehmen hätten, und teilte ihnen wahrscheinlich auch mit, dass man wieder Arbeitskräfte holen wolle. Dann fuhren die SS-Leute auf mindestens zwei Lastkraftwagen bis zur deutschen Grenzstation Kolleschen. Hier stiegen noch einige SS-Männer sowie der Angeklagte Bastian, der seine graue Grenzpolizeiuniform trug, hinzu. Dann fuhr die SS-Kolonne über die Reichsgrenze in die wenige Kilometer entfernte litauische Stadt Naumiestis. Dr. Scheu kam mit seinem Personenkraftwagen ebenfalls dorthin.
In Naumiestis war nach dem Einmarsch der deutschen Truppen eine "vorgeschobene Grenzaufsichtsstelle" der Reichsfinanzverwaltung eingerichtet und mit etwa 10 bis 15 Zollbediensteten besetzt worden. Die Führung dieser Dienststelle hatte der - später gefallene - Zollobersekretär Hirscher, der zugleich Leiter der Grenzaufsichtsstelle Kolleschen war. Ausserdem gehörten dieser Dienststelle die Zeugen Kem., N. und Og. und der (verstorbene) Bäckermeister Schade an, die von Kolleschen nach Naumiestis abgeordnet waren. Die Zöllner hatten dort Streifendienst zu versehen und das in der früheren russischen Kaserne liegende Kriegsmaterial zu bewachen. Sie hatten am Marktplatz in Naumiestis eine Ortskommandantur eingerichtet. Die jüdischen Männer, die in Naumiestis ansässig waren, mussten sich täglich auf der Kommandantur melden und wurden von den Zollbediensteten zu Aufräumungs- und Strassenreinigungsarbeiten eingesetzt; ausserdem mussten sie die am ersten Kampftage gefallenen Soldaten bestatten. Die Juden durften anfangs ihre Wohnungen behalten, mussten aber später in eine bestimmte Strasse, also in ein Ghetto, ziehen. Die Zöllner hatten auf irgendeine Weise von der bevorstehenden Erschiessung der Juden Kenntnis erhalten. Jedenfalls sagte der Zollobersekretär Hirscher am Morgen des Tages, an dem die Heydekruger SS in Naumiestis erschien, zu dem Zeugen N., heute würden die Juden vernichtet, er wolle damit nichts zu tun haben. Hirscher und N. und möglicherweise noch ein oder zwei andere Zollbedienstete fuhren daraufhin nach Tauroggen, um nicht Zeugen der Judenerschiessung zu werden; die Zeugen Kem. und Og. blieben dagegen in Naumiestis zurück.
Schon vor dem Eintreffen der SS in Naumiestis waren die männlichen Juden im Alter von etwa 14 Jahren an von litauischen Schaulisten bei der - bereits zerstörten - Synagoge versammelt worden. Es waren mehrere hundert Juden. Unter ihnen befanden sich die Zeugen Gl. (geboren am 5.Oktober 1907), Glu. (geboren am 10.November 1924) und Jo. (geboren am 6.Oktober 1925). Der letztgenannte Zeuge wurde nach Ankunft der SS zunächst wegen seines jugendlichen Alters nach Hause geschickt, jedoch am Nachmittag in der Wohnung seiner Eltern erneut festgenommen.
Die SS-Leute und litauischen Partisanen führten sodann die Juden unter strenger Bewachung zu der früheren russischen Kaserne, die etwa 1 km hinter dem Ortsausgang an der Strasse nach Vainutas gelegen war. Hier wählten SS-Angehörige aus den versammelten Juden etwa 30 bis 40 Mann aus, die für den Arbeitseinsatz in Heydekrug bestimmt waren, und sperrten sie - getrennt von den übrigen Juden - in einen Pferdestall oder in eine Remise ein. Wer von den beteiligten SS-Männern die Einteilung vorgenommen hat, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Es spricht aber eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Angeklagte Dr. Scheu als höchster auf dem Kasernenhof anwesender SS-Führer - der Angeklagte Struve ist hier von keinem der Beteiligten gesehen worden - die Auswahl selbst durchgeführt hat. Zumindest hat Dr. Scheu die Einteilung, wenn er sie nicht von vornherein selbst vorgenommen hat, anschliessend überprüft und dabei noch einzelne Leute von der einen in die andere Gruppe geschickt.