Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXIV

Verfahren Nr.732 - 746 (1970 - 1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.734a LG Braunschweig 12.06.1970 JuNSV Bd.XXXIV S.297

 

Lfd.Nr.734a    LG Braunschweig    12.06.1970    JuNSV Bd.XXXIV S.317

 

gegolten. Diese Darstellung gab der Angeklagte auch in seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter am 19.4.1967.

 

Demgegenüber hat der Angeklagte in der früheren Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht am 20.9.1967 ausgesagt, dass er nicht wisse, ob sich die Anordnung vom 11.9.1944 nur auf das KL Gross-Rosen beziehe, und auch nicht mehr sagen könne, ob nur jüdische Häftlinge von ihr betroffen gewesen seien; er glaube, sie habe für alle Häftlinge gegolten. Diese Aussage hat er dann wieder dahin eingeschränkt, dass er glaube, die Anordnung habe sich nur auf Juden bezogen; er könne darauf aber keinen Eid leisten, da sich die Anordnung möglicherweise auf alle Häftlinge bezogen habe.

 

In der jetzigen Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht vom 8.6.1970 hat der Angeklagte ausgesagt:

Der Inhalt der Anordnung vom 11.9.1944 sei ihm nicht mehr bekannt. Der verschärfte Befehl für die Behandlung von Fluchtfällen sei wegen der kritischer werdenden Frontlage, der wachsenden Unruhe in seinem Lager, der immer stärker werdenden Neigung der Häftlinge zu fliehen und der angeblich in Ost-Oberschlesien vorhandenen "Anlaufstellen" für geflohene Häftlinge erlassen worden. Er habe bei der Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft unter anderen äusseren Umständen gestanden als jetzt, da er ein freier Mensch sei. Damals habe er auch nur vom Arbeitslager Riese gesprochen. Er könne nicht mehr aufrechterhalten, dass der Befehl nur für Juden gegolten habe. Es habe sich um eine generelle Anweisung für sämtliche Fluchtfälle gehandelt. Er stehe jetzt unter anderen seelischen Voraussetzungen als zu der Zeit, als er sich in Untersuchungshaft befunden habe, zumal man ihn bei seiner Verhaftung wie einen "Sittenstrolch" nachts aus dem Bett geholt habe. Bei seinen früheren Vernehmungen durch die Staatsanwaltschaft und den Untersuchungsrichter habe er unter dem Druck des Gefangenseins gestanden. Er sei damals bei den Vernehmungen darauf gelenkt worden, dass die Anordnung sich nur auf Juden bezogen habe. Gegenüber der früheren Hauptverhandlung sei er zu neuen Erkenntnissen gekommen. Er habe seither zu den Dingen einen Abstand gewonnen und sich gefragt, weshalb er sich immer dahinein drängen lasse, der Befehl könne ja auch allgemein gewesen sein. Er habe bei der Vernehmung durch den Staatsanwalt und durch den Untersuchungsrichter kein sicheres Wissen, sondern Kombinationen wiedergegeben. Damals habe er dem vernehmenden Staatsanwalt allerdings gesagt, dass er sich freue, freimütig aussagen zu können und dass es ihm ein Bedürfnis sei, über diese Dinge auszusagen.

 

Bei derartig wechselnden und schwankenden Einlassungen des Angeklagten ist das Schwurgericht auch unter Berücksichtigung der vorstehend unter a) - c) angeführten Erwägungen nicht davon überzeugt, dass die zweite vom Angeklagten in seiner staatsanwaltschaftlichen Vernehmung gegebenen Darstellung, die mit der Darstellung in der Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter übereinstimmt, richtig ist. Das Schwurgericht ist davon überzeugt, dass sich der jetzt 59-jährige Angeklagte wirklich nicht mehr an den genauen Inhalt der Anordnung vom 11.9.1944 erinnern kann, geschweige denn an deren Wortlaut. Da in den Exekutionsbefehlen des Angeklagten stets ausschliesslich von jüdischen Häftlingen die Rede ist, liegt allerdings der Schluss nahe, dass sich die Anordnung vom 11.9.1944 ausschliesslich auf jüdische Häftlinge bezogen habe. Das Schwurgericht ist auch davon überzeugt, dass der Angeklagte bei seinen früheren Aussagen keinerlei Druck ausgesetzt gewesen ist, dass er jedoch in der mehr als 20-jährigen Zeit nach den Vorfällen seine Erinnerungen an damals verdrängen und verdrängt wissen wollte. Nach seiner überraschenden Verhaftung während einer Geschäftsreise in Cloppenburg befand sich der Angeklagte während der Zeit seiner Untersuchungshaft in einer Ausnahmesituation, denn er, der nach seinen Worten ein reines Gewissen und sich nichts vorzuwerfen hat, da er ja seine Befehle gehabt hatte und nur diesen Befehlen gefolgt war, war "wie ein Sittenstrolch nachts aus dem Bett geholt" worden. Über seine nächtliche Verhaftung ist er noch heute empört und hat zwar dieser Empörung in der Hauptverhandlung Ausdruck gegeben, jedoch kein Wort des Mitleids oder des Bedauerns über die Häftlinge des von ihm geführten KL Gross-Rosen verloren, obwohl er weiss, dass