Justiz und NS-Verbrechen Bd.XX

Verfahren Nr.569 - 589 (1964 - 1965)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

> zum Inhaltsverzeichnis

Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.281

 

Lfd.Nr.579a    LG Aurich    26.06.1964    JuNSV Bd.XX S.317

 

in die Latrine geschickt. Die Männer hätten die Hosen ausziehen und bis zur Hüfte in die Grube steigen müssen. Sie hätten dann mit den Händen die Eimer füllen müssen, um die Grube zu räumen. Dr. Scheu habe etwa sieben bis acht ältere Juden in die Latrine geschickt. Unter ihnen sei auch Joseph Kagan (der Vater von Manus Kagan) gewesen. Er habe Dr. Scheu gefragt: "Warum müssen wir das machen? Warum erschiessen Sie uns nicht gleich?" Dr. Scheu habe darauf erwidert: "Halt die Schnauze, Du wirst in Kürze sowieso erschossen!"

Dieser abscheuliche Vorfall kann sich durchaus in ähnlicher Weise tatsächlich zugetragen haben, obwohl die übrigen jüdischen Zeugen, die zur gleichen Zeit im Lager Matzstubbern/Ullosen festgehalten wurden (Hal., Arie Go. und David Go.), hiervon nichts bekundet haben. Das Schwurgericht hat sich aber nicht davon überzeugen können, dass Dr. Scheu an dem Latrinenvorgang beteiligt war. Der Angeklagte Dr. Scheu ist ein gebildeter Mensch, ein Arzt und Rittergutsbesitzer, der - so brutal und rücksichtslos er auch sein mag - in seinem äusseren Verhalten gewisse Formen bewahrt, auf sein gesellschaftliches Ansehen Rücksicht nimmt und es schon aus diesem Grunde sicherlich vermeidet, sich durch sein Benehmen leichtfertig in den Ruf eines ordinären Menschen und minderwertigen Charakters zu bringen.

Zwar hat er, wie noch festzustellen sein wird, eine grosse Anzahl von Menschen kaltblütig ermorden lassen und sogar selbst auf die Opfer geschossen. Diese Tat ist strafrechtlich auch weit schwerer zu werten als eine etwaige Mitwirkung bei dem Latrinenvorgang. Sie ist aber eine ganz andere Verhaltensweise, die Dr. Scheu in seiner eigenen Vorstellung und (leider!) auch der Vorstellung vieler anderer Menschen längst nicht so stark belastet wie eine Mitwirkung an dem Latrinenfall. Der Angeklagte Dr. Scheu hat diese Einstellung in der Hauptverhandlung deutlich zu erkennen gegeben und das Schwurgericht davon überzeugt, dass er viel eher imstande ist, Menschen zu töten, als sie in die Latrine zu schicken.

 

Nach alledem meint das Schwurgericht, dass ein Verhalten Dr. Scheus, wie es der Zeuge Ar. geschildert hat, für ihn so persönlichkeitsfremd wäre, dass man mit der Möglichkeit einer (zumindest objektiven) Unrichtigkeit der Aussage des Zeugen Ar. rechnen muss und seinen Bekundungen daher nicht folgen kann.

 

Aus diesen Erwägungen hat das Schwurgericht der Aussage des Zeugen Ar., dass er die Erschiessung der drei Juden in Sveksna mit eigenen Augen gesehen habe, keinen entscheidenden Beweiswert beimessen können.

 

Aber selbst wenn man die Aussage des Zeugen Ar. ausser Betracht lässt, soweit sie den letzten Abschnitt des Geschehens in Sveksna betrifft, begründen die vom Schwurgericht festgestellten Tatsachen doch den - fast erdrückenden und durch Gegenargumente kaum zu erschütternden - Verdacht, dass Dr. Scheu und Jagst die Juden Selig Ar., Eliah Shapiro und Abraham Gershon erschossen haben.

Wenn Dr. Scheu und Jagst, wie das Schwurgericht festgestellt hat, die drei Männer unter Androhung ihrer Erschiessung und unter Angabe des Grundes der Tötung (der eine soll Kommunist, die anderen sollen krank gewesen sein) von den Fahrzeugen herunterholten und sie an die Seite der Synagoge führten, wenn dann tatsächlich Schüsse fielen und die Angeklagten nach ihrer Rückkehr zu den auf dem Lastwagen wartenden Juden sagten, wenn einer sich rühre oder sonst nicht gehorche, werde er ebenfalls erschossen werden, dann ist die Annahme, dass Dr. Scheu und Jagst die drei Männer getötet haben, nur folgerichtig.

 

Auf andere Weise lässt sich dieses Geschehen nur erklären, wenn man es für möglich hält, dass Dr. Scheu und Jagst bloss die auf den Fahrzeugen befindlichen Juden einschüchtern wollten, dass sie aus diesem Grunde drei Männer absteigen liessen, sie an die Seite der Synagoge führten und dort den auf den Fahrzeugen wartenden Juden eine Erschiessung vortäuschten, in Wirklichkeit aber die von ihnen abgeführten Männer lebend in Sveksna zurückliessen.

Diese Möglichkeit findet eine scheinbare Parallele in zwei anderen Vorgängen, in denen die SS-Leute bei den gefangenen Juden den Anschein erweckten, als ob sie einen Juden erschiessen wollten. So führten SS-Männer im Rahmen der Zwangsverschleppungsaktion in Sveksna in der Nacht vom 27. zum 28.Juni 1941 einen Rabbiner auf den