Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXIV

Verfahren Nr.732 - 746 (1970 - 1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.734a LG Braunschweig 12.06.1970 JuNSV Bd.XXXIV S.297

 

Lfd.Nr.734a    LG Braunschweig    12.06.1970    JuNSV Bd.XXXIV S.316

 

Vorgänge, auch in der Zeit nach dem 11.9.1944, wobei der Vorgang Humianko mit Hinrichtung am 21.9.1944 und Nummer 575/44 dem Tage der Anordnung am nächsten kommt. Bei einer derartigen Unvollständigkeit ist es aber denkbar, dass ausser der Anordnung vom 11.9.1944 auch Hinrichtungsbefehle, die auf diese Anordnung gestützt waren und sich gegen geflohene und wiederergriffene nichtjüdische Häftlinge richteten, verlorengegangen sind. Es befanden sich immerhin neben etwa 35.000 Juden auch etwa 45.000 nichtjüdische Häftlinge im KL Gross-Rosen. Wenn auch die jüdischen Häftlinge wegen der geplanten "Endlösung" am meisten um ihr Leben zu fürchten hatten, so hält es das Schwurgericht wegen der allgemein schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen der Häftlinge und ihrer Rechtsunsicherheit jedoch für nicht ausgeschlossen, dass in der Zeit nach dem 11.9.1944 auch ein nichtjüdischer Häftling geflohen, wiederergriffen und allein aufgrund der Anordnung vom 11.9.1944 hingerichtet worden ist.

 

c) Es mag zutreffen, dass im KL Buchenwald noch im Dezember 1944 geflohene und wiederergriffene Häftlinge nicht exekutiert worden sind, sondern lediglich - wie in den früheren Jahren - den Fluchtpunkt erhielten und ins Stammlager und dort in eine Strafkompanie kamen. Beide KL können aber schon unter Berücksichtigung der damals in der zweiten Jahreshälfte 1944 bestehenden Kriegslage nicht miteinander gleichgesetzt werden: Buchenwald lag in der Nähe von Weimar und damit etwa 400-450 km Luftlinie westlich vom Stammlager des KL Gross-Rosen. Dieses befand sich damals jedenfalls mit einem Teil seiner Arbeitslager im Bereich des etwa im August/September 1944 zum Kriegsgebiet erklärten Wehrkreisbezirks Breslau. Da das KL Gross-Rosen wesentlich näher an der Front und zumindest mit einem Teil seiner Lager schon im Kriegsgebiet lag, ist es durchaus denkbar, dass - ausgehend von der angeblichen Minderwertigkeit aller Häftlinge - zur Aufrechterhaltung der Disziplin, insbesondere zur Unterdrückung von Fluchtabsichten und zur Weiterführung der Kriegsproduktion im Lager verschärfte Strafbestimmungen für Fluchtfälle speziell für das KL Gross-Rosen erlassen worden sind. Hinzu kommt, dass jedenfalls im Arbeitslager Riese an einem streng geheimen unterirdischen Projekt gearbeitet wurde, das angeblich ein Führerhauptquartier werden sollte. Auch das Aktenzeichen der Anordnung vom 11.9.1944 deutet darauf hin, dass die Anordnung speziell für das Lager Gross-Rosen erlassen worden ist, denn eine Geheime Tagebuchnummer wurde weder beim WVHA noch beim RSHA, sondern in den KL als Aktenzeichen geführt und die Abkürzung "Gr.R." wird die damals gebräuchliche Abkürzung für den Namen "Gross-Rosen" sein. Für den Erlass der verschärften Strafbestimmungen dürfte es auch eine Rolle gespielt haben, dass geflohene Häftlinge sich den im damaligen Generalgouvernement und in Ost-Oberschlesien operierenden Partisanen (Banden) hätten anschliessen können. Es ist allerdings nicht ersichtlich, dass die "Fluchtjuden" des vorliegenden Falles sich tatsächlich solchen Banden angeschlossen hätten. Wäre das der Fall gewesen, so hätte der Angeklagte einen derartigen Umstand zur Abschreckung vermutlich in seinen Exekutionsbefehlen angeführt.

 

d) Die Einlassungen des Angeklagten hierzu haben gewechselt. Bei seiner Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft am 16.3.1967 hat der Angeklagte zunächst erklärt, dass sich die Anordnung nur auf Fluchtfälle aus dem Arbeitslager Riese mit seinen ausschliesslich jüdischen Häftlingen ("Transportjuden" aus Auschwitz, die aber auch in anderen Arbeitslagern des KL Gross-Rosen inhaftiert waren), bezogen habe, da jenes Arbeitslager zwar streng geheim, aber nicht "KL-mässig" zu sichern gewesen sei, und dass deshalb die aus diesem Arbeitslager geflohenen und wiederergriffenen Häftlinge zur Abschreckung der anderen dort befindlichen Häftlinge vor Fluchtversuchen exekutiert werden sollten und auch exekutiert worden seien. Nachdem dem Angeklagten in dieser Vernehmung sodann Ablichtungen der von ihm unterzeichneten Exekutionsbefehle und der Exekutionsprotokolle vorgelegt worden waren, änderte er seine Angaben unter Hinweis auf seine mangelhafte Erinnerung nach 23 Jahren dahin, dass er nunmehr annehme, die Anordnung vom 11.9.1944 habe generell für alle aus Arbeits- und Nebenlagern des KL Gross-Rosen geflohene und wiederergriffene jüdische Häftlinge