Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLIX

Verfahren Nr.920 - 924 (2002 - 2012), 880 (Erratum), 950 - 959 (1945 - 1960; Nachtragsverfahren)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.924 LG München II 12.05.2011 JuNSV Bd.XLIX S.227

 

Lfd.Nr.924    LG München II    12.05.2011    JuNSV Bd.XLIX S.310

 

Sachverständigen Prof.Dr. Wolfgang Ei. vom Institut für Rechtsmedizin der Universität München.

 

1. Sachverständiger Prof.Dr. Ei.

 

Der Sachverständige legte dar, dass bei tödlichen Vergiftungen durch Abgase von benzinbetriebenen Ottomotoren die wesentliche Giftwirkung auf der Aufnahme von gasförmigem Kohlenmonoxid über die Atemluft in den menschlichen Körper beruhe. Kohlenmonoxid (CO) sei ein farbloses, geruchloses und geschmackloses Gas. Die Giftwirkung beim Menschen beruhe auf der Bindung von CO an den menschlichen Blutfarbstoff Hämoglobin. Dadurch entstehe Carboxy-Hämoglobin (CO-Hb), eine relativ stabile chemische Verbindung, welche verhindere, dass das in den roten Blutkörperchen vorhandene Hämoglobin Sauerstoff aufnehmen könne. Dadurch komme es zu einem Sauerstoffmangel in den Zellen des menschlichen Körpers und damit zu einem inneren Ersticken. Die Affinität von CO zu Hämoglobin sei etwa 240- bis 300-mal grösser als die von Sauerstoff zu Hämoglobin. Bereits bei einem CO-Gehalt von 0,1% in der Luft seien tödliche Vergiftungen wahrscheinlich.

 

Ausser der reinen Blockade des Hämoglobins für die Sauerstofftransportfunktion veranlasse das CO im menschlichen Körper noch vielfältige biomechanische Begleiteffekte. So komme es zu einer Freisetzung von Hormonen, insbesondere Adrenalin, Veränderungen des Kohlehydrat-Stoffwechsels und weiteren Veränderungen im Hormon- und Stoffwechselhaushalt. Während der CO-Hb-Wert im Regelfall bei unter 5% und nur gelegentlich bei Werten bis maximal 15% liege, seien bei Konzentrationen über 15% CO-Hb als erste Vergiftungsanzeichen Kopfschmerzen zu erwarten. Weitere Initialsymptome seien Schwäche, Müdigkeit, Nachlassen der Urteilsfähigkeit, Augenflimmern, Schwindel und Ohrensausen, Herzklopfen und eine Erhöhung der Atemfrequenz, was bei einer anhaltenden Einwirkung durch die Abgase zu einer weiteren Erhöhung der CO-Hb-Konzentration führe.

 

Im weiteren Verlauf verstärke sich das Schwächegefühl, wobei Übelkeit und Erbrechen häufige Symptome seien. Schliesslich werde der Vergiftete bewusstlos, wobei auch Muskelkrämpfe vorkämen, die dann umso wahrscheinlicher seien, je schneller die Intoxikation herbeigeführt werde. Je höher die körperliche Aktivität sei, desto schneller komme es auch zur Anflutung bis zum Erreichen relevanter CO-Hb-Spiegel. Nach wissenschaftlichen Studien sei bei raschem Vergiftungseintritt das Finalstadium durch hypoxidotische Krämpfe bestimmt.

 

Die Bewusstlosigkeit des Opfers sei bei CO-Hb-Werten ab etwa 50% in der Regel zu erwarten. Der Tod des Menschen trete ein, wenn etwa zwei Drittel des verfügbaren Hämoglobins im Blut durch Kohlenmonoxid blockiert sei, wobei Personen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Blutarmut oder erhöhtem Sauerstoffverbrauch wie etwa schwangere Frauen, Fieberkranke und ältere Menschen noch empfindlicher auf hohe CO-Hb-Gehalte im Blut reagieren würden und bei dieser Personengruppe auch tödliche CO-Vergiftungen bereits bei CO-Hb-Werten von unter 50% möglich seien.

 

Die Anflutungsgeschwindigkeit hänge vom CO-Gehalt in der Einatmungsluft ab, welche sich für die Gaskammern aufgrund des vorliegenden Materials nicht mehr ermitteln lasse. Auspuffgase benzinbetriebener Kraftfahrzeug enthielten etwa 1,2 bis 1,8 Volumenprozent CO, wobei dies aber stark von der Vergasereinstellung abhängig sei. Zu berücksichtigen sei allerdings auch, dass CO etwas leichter als Luft sei und somit bei Austritt aus Düsen an der Decke sich primär im Bereich der Köpfe der stehend eingesperrten Personen verbreitet habe, so dass es relativ rasch zu einer Einatmung gekommen sein dürfte, zumal auch eine Ausbreitung des CO in die unteren Raumbereiche in Anbetracht der dicht gedrängt eingepferchten Menschen jedenfalls nicht in relevanter Weise anzunehmen sei.

 

Der jeweilige Vergasungsvorgang in den einzelnen Kammern sei selbstverständlich nicht mehr im Einzelnen rekonstruierbar, da sich individuelle Ablaufvarianten abgespielt haben