Justiz und NS-Verbrechen Bd.XX

Verfahren Nr.569 - 589 (1964 - 1965)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.281

 

Lfd.Nr.579a    LG Aurich    26.06.1964    JuNSV Bd.XX S.308

 

Grenzraum nach Heydekrug zu bringen; zu diesem Zweck unterstellte er ihm auch die Angehörigen des SS-Sturmbannes II/105. Ob Struve bei dieser Gelegenheit Dr. Scheu und die Heydekruger SS ausdrücklich dem Befehl des kommissarischen Landrats Schm. unterstellte, wie Dr. Scheu behauptet, hat das Schwurgericht nicht feststellen können.

 

In der Zeit von Freitag, dem 27.Juni 1941, bis Sonntag, dem 29.Juni 1941, führte die Heydekruger SS unter der persönlichen Führung von Dr. Scheu im benachbarten litauischen Grenzraum, und zwar in den Orten Sveksna, Vevirzeniai, Kvedarna und Laukova, mehrere sogenannte "Judenbeschaffungsaktionen" durch. An diesen Einsätzen nahm jeweils eine grössere Zahl von Angehörigen des SS-Reitersturms 2/20 und des SS-Sturmbannes II/105 teil. Unter ihnen befanden sich der Angeklagte Jagst, der Zeuge Wal. und der (im Kriege gefallene) SS-Unterscharführer Kaulitzki. Die SS benutzte für diese Fahrten mehrere Lastkraftwagen, die sehr wahrscheinlich die Kreisverwaltung für diesen Zweck zur Verfügung gestellt hatte. Der Angeklagte Dr. Scheu hatte ausserdem einen offenen Personenkraftwagen, der eigentlich einem Heydekruger Kaufmann gehörte, aber vom Landratsamt beschlagnahmt und ihm zum persönlichen Gebrauch überlassen worden war.

 

Am späten Vormittag des 27.Juni 1941 erschien die Heydekruger SS unter Führung von Dr. Scheu in dem unweit der Grenze gelegenen Ort Sveksna. Dr. Scheu liess sich von dem Ortskommandanten der Wehrmacht (einem Feldwebel) eine Anzahl der erbeuteten Gewehre nebst Munition aushändigen, mit denen er seine Leute bewaffnete. Dann holten die SS-Männer mit Hilfe von litauischen "Schaulisten" (Angehörige einer sowjetfeindlichen Partisanengruppe), welche die im Ort ansässigen Juden und ihre Wohnungen kannten, die männlichen Juden im Alter von etwa 15 Jahren an aus ihren Behausungen heraus und trieben sie auf dem Hinterhof der Synagoge zusammen, wo sie antreten mussten. Hier hatten die SS-Männer oder die Litauer bereits die in der Synagoge vorgefundenen Kultgeräte und heiligen Bücher auf einen Haufen geworfen und in Brand gesteckt. Die Juden mussten sich das Feuer ansehen. Dr. Scheu war auf dem Hof anwesend.

Danach wurden die Juden einzeln in die Synagoge geführt. Schon im Vorraum des Hauses wurden sie von SS-Männern geschlagen und aller Wertsachen (Uhren, Ringe, Geld usw.) beraubt. Anschliessend wurden sie in den im Erdgeschoss gelegenen Betsaal der Männer gebracht. Hier nahm der ortsansässige litauische Arzt Dr. Bilunas eine - allerdings sehr oberflächliche - Untersuchung auf ihre Arbeitsfähigkeit vor. Ausserdem schrieb ein SS-Mann (möglicherweise der Angeklagte Jagst) die Personalien auf. Ein litauischer Friseur schnitt den Juden ein Kreuz ins Haar und nahm allen Männern, die Bärte oder Schnurrbärte trugen, den halben Bart ab. Dann wurden die Juden einzeln und unter Schlägen der an der Treppe stehenden SS-Männer in den Frauenbetsaal im Obergeschoss des Hauses getrieben. Hier mussten sie von Mittag bis in die Abendstunden hinein "Sport" treiben (laufen, hüpfen, robben, kniebeugen, hinlegen, aufstehen usw.). Wer die Übungen nicht oder nicht schnell genug mitmachte, bekam von den beaufsichtigenden SS-Männern Prügel. Besonders die älteren Juden, die dem kräfteverzehrenden "Sport" nicht gewachsen waren, wurden hierbei erheblich geschlagen.

 

In der Synagoge waren etwa 100 bis 200 männliche Juden versammelt. Unter ihnen befanden sich die Zeugen L. (geboren 1905), Sh. (früher O., geboren 27.März 1926) und Si. (geboren am 25.Oktober 1924). Der Zeuge Si., der eine sportliche Erscheinung war, musste bei den Übungen den Vorturner machen.

Am Spätnachmittag erschien der kommissarische Landrat Schm. in Begleitung des Kreisbediensteten Schattner an der Synagoge in Sveksna und liess sich von Dr. Scheu über den Verlauf der Aktion berichten.

Die gefangenen Juden blieben über Nacht in dem oberen Betsaal der Synagoge. Die Wachmannschaften der SS liessen sie während der Nacht meist in Ruhe. Allerdings führten sie den Rabbiner Levitan auf den Hof und schossen über seinen Kopf hinweg. Der Rabbiner kehrte aber danach unverletzt zu den übrigen Juden zurück. Am Morgen des folgenden Tages (Sonnabend) wurden die Juden gruppenweise nach unten geführt, wobei die SS-Männer wieder auf sie einschlugen, und auf Lastkraftwagen verladen.