Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam
Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.307
VI. Die Zwangsverschleppung jüdischer Arbeitskräfte aus Sveksna, Vevirzeniai, Kvedarna und Laukova
1. Tatsächliche Feststellungen
Der Landkreis Heydekrug war unter der litauischen Herrschaft in seiner wirtschaftlichen Entwicklung gegenüber vergleichbaren Landkreisen im Reichsgebiet erheblich zurückgeblieben. Um diesen Rückstand aufzuholen, wurden nach dem Anschluss im März 1939 verschiedene Eindeichungs-, Meliorations- und Strassenbauarbeiten in Angriff genommen; ausserdem begann man mit dem Bau von Wohnungen für die aus dem Altreich gekommenen Beamten. Der Fortgang der Arbeiten geriet aber wegen des Mangels an Arbeitskräften und Material wiederholt ins Stocken. Nach Kriegsausbruch setzte man für die Arbeiten vorwiegend polnische, belgische und französische Kriegsgefangene ein, die in mehreren Lagern bei Heydekrug untergebracht waren. Die Kriegsgefangenen wurden aber aus Sicherheitsgründen kurz vor Beginn des Russlandfeldzuges aus der Grenzzone abgezogen. Dadurch kamen die Arbeiten praktisch zum Erliegen, weil andere Arbeitskräfte einstweilen nicht zur Verfügung standen.
Der kommissarische Landrat Schm., der sehr rührig und ehrgeizig war, wollte die durch den Abzug der Kriegsgefangenen und den Materialmangel unterbrochenen Arbeiten fortsetzen. Zu diesem Zweck wollte er nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Litauen männliche jüdische Arbeitskräfte, Lastwagen und Baumaterialien aus dem benachbarten Grenzraum herbeischaffen. Zur Besorgung der Baumaterialien fuhr der Zeuge Schm. kurz nach Beginn der Feindseligkeiten mehrmals allein oder in Begleitung des Architekten Gu. nach Litauen hinüber. Ausserdem sandte er wiederholt Angehörige der Kreisverwaltung, insbesondere den Kreisinspektor Bu., der sich zu diesem Zweck seine SS-Uniform anziehen musste, und den Kreisarchitekten Roth sowie den Angeklagten Jagst über die Grenze, um dort erbeutetes Heeresgut, vor allem Baumaterialien, zu "organisieren" und Nägel, Leim und ähnliche Dinge einzukaufen. Schliesslich besorgte sich der Zeuge Schm. wenige Tage nach Feldzugsbeginn in Tauroggen mehrere russische Lastkraftwagen; die Angeklagten Dr. Scheu, Struve und Jagst, die an der Fahrt nach Tauroggen teilnahmen, waren ihm dabei behilflich. Das Überschreiten der Reichsgrenze bereitete bei diesen Fahrten keine Schwierigkeiten, weil die Zoll- und Grenzpolizeibeamten die befohlene Grenzsperre sehr grosszügig handhabten; sie liessen nämlich sowohl den ihnen bekannten Landrat als auch jede Personengruppe, bei der sich ein "Uniformträger" befand, ungehindert die Grenze passieren. Wie der Zeuge Böhme bekundet hat, war die Grenze damals trotz der angeordneten Sperre "praktisch offen".
Entweder unmittelbar vor oder unmittelbar nach Beginn der Feindseligkeiten mit Russland kamen der Angeklagte Dr. Scheu und der kommissarische Landrat Schm. in dessen Dienstzimmer zu einer Unterredung zusammen. Hierbei brachte Landrat Schm. das Gespräch auf seine Idee, jüdische Zwangsarbeiter im Kreise Heydekrug einzusetzen, um die begonnenen Bauarbeiten fortzuführen.
Er forderte Dr. Scheu auf, mit der Heydekruger SS bei der Heranschaffung der Juden behilflich zu sein. Dr. Scheu stimmte dem Plan grundsätzlich zu und versprach - allerdings unter dem Vorbehalt, dass er zunächst die Genehmigung seines Standartenführers, des Angeklagten Struve, einholen müsse - die Mitwirkung der SS bei der Heranschaffung der Arbeitskräfte. Er tat dies in der Überzeugung, dass die Fortführung der begonnenen Bauvorhaben im Interesse seines Heimatkreises liege und wahrscheinlich auch in der Erwartung, hierdurch zugleich Arbeitskräfte für die Landwirtschaft des Kreises gewinnen zu können.
Dr. Scheu setzte sich sodann telefonisch mit dem Angeklagten Struve in Verbindung und trug ihm den Plan des Landrates vor. Struve fand Interesse an der Sache und fuhr selbst nach Heydekrug, um die Angelegenheit mit dem kommissarischen Landrat Schm. zu besprechen. Er traf mit ihm im Hotel "Germania" in Heydekrug zusammen. Struve billigte bei dieser Unterredung den Plan, jüdische Zwangsarbeiter im Kreis Heydekrug einzusetzen, und stellte dem Landrat die Heydekruger SS zur Herbeischaffung der Arbeitskräfte zur Verfügung. Anschliessend suchte er Dr. Scheu auf und erteilte ihm den Auftrag, entsprechend dem Wunsche des Landrats Juden aus dem litauischen