Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXIV

Verfahren Nr.732 - 746 (1970 - 1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.734a LG Braunschweig 12.06.1970 JuNSV Bd.XXXIV S.297

 

Lfd.Nr.734a    LG Braunschweig    12.06.1970    JuNSV Bd.XXXIV S.305

 

"Aus dieser Vernehmungsniederschrift muss ferner hervorgehen, ob der Häftling während der Fluchtzeit Diebstähle oder andere Straftaten begangen hat. Gegebenenfalls ist Exekutionsantrag beizufügen."

 

Dem Angeklagten waren diese Bestimmungen bekannt. Er erklärte sich die nunmehr verschärften Bestimmungen zum einen mit der ihm bekannten rassenfeindlichen Einstellung seiner Vorgesetzten, zum anderen mit der durch das Näherrücken der Fronten in West und Ost verschärften Kriegslage, der ebenfalls durch die Kriegslage bedingten Unruhe in den Lagern mit den verstärkten Fluchtabsichten der Häftlinge und angeblich vorhandenen "Anlaufstellen" für entwichene Häftlinge in Ostoberschlesien mit der Möglichkeit des Anschlusses an dort operierende Partisanen (Banden), also um die Häftlinge abzuschrecken und den reibungslosen Fortgang der Rüstungsproduktion zu gewährleisten. Daraufhin belehrte er alle Häftlinge darüber, dass ein Fluchtversuch mit dem Tode bestraft würde. Im übrigen war es für den Angeklagten nicht ungewöhnlich, dass im Namen des Reichsführer-SS (RFSS) ohne Gerichtsurteil eine Hinrichtung befohlen wurde. Bereits früher hatte er als Lagerkommandant Exekutionsbefehle erhalten und auch durchführen lassen. Dabei hatte es sich jedoch überwiegend um Häftlinge gehandelt, die von den Stapo(leit)stellen Posen oder Breslau in das KL Gross-Rosen eingewiesen worden waren zur Durchführung der Exekution. Neben ihren Funktionen als Vernichtungslager wie z.B. Auschwitz-Birkenau und als Schutzhaft- und Arbeitslager dienten die KL auch als Hinrichtungsstätten für Häftlinge, die der "Sonderbehandlung" zugeführt werden sollten. So haben insgesamt nach Angaben des Angeklagten etwa 72 bis 74 Exekutionsfälle mit etwa 300 Opfern im KL Gross-Rosen stattgefunden. Der Angeklagte hat persönlich an 3 Hinrichtungen teilgenommen sowie an den Exekutionen der an der Tötung des Lagerältesten Kaiser beteiligten deutschen Berufsverbrecher und an der Exekution eines Ukrainers. Bei den Exekutionen, die Gegenstand dieses Verfahrens sind, war er nicht anwesend. Diesen neben der Justiz bestehenden sogenannten "zweiten Rechts- und Vollzugsweg" kannte der Angeklagte schon aus seiner früheren Tätigkeit, insbesondere als Adjutant im Stabe Eickes. Ausgangspunkt dieses zweiten Rechts- und Vollzugsweges war die "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat" vom 28.2.1933 (RGBl. I. S.83), die die Grundlage für den Einsatz der Gestapo, für die Schutzhaft und die Existenz der KL bildete. Das Preuss. OVG hat am 2.5.1935 entschieden, dass Verfügungen des Gestapa nicht der Nachprüfung durch die Verwaltungsgerichte unterliegen. Eine entsprechende Normierung findet sich dann im Gestapo-Gesetz vom 10.2.1936 (Pr.Ges. S.21) in §7: "Verfügungen und Angelegenheiten der Geheimen Staatspolizei unterliegen nicht der Nachprüfung durch die Verwaltungsgerichte." Schliesslich sollten alle Juden, Polen, Zigeuner, Russen und Ukrainer in Strafsachen nicht mehr von den ordentlichen Gerichten abgeurteilt, sondern "durch den Reichsführer-SS erledigt werden" (Protokoll über die Besprechung des Reichsführers-SS mit dem Reichsjustizminister am 18.9.1942). Darin kam der Anspruch der SS zum Ausdruck, aus eigenem Recht zu handeln und an die normative Ordnung nicht gebunden zu sein.

 

Der Angeklagte, nach seinem Charakter und seiner Erziehung im Elternhaus von vornherein bereit, Befehlen widerspruchslos zu gehorchen, war auch während seines Besuches der SS-Junker-Schule und in der nachfolgenden Zeit durch seine Ausbildung in der SS so erzogen worden, dass er jeden Befehl unbedingt auszuführen und keine Kritik daran zu üben hatte. Aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten, seiner Erziehung und Ausbildung im Elternhaus, Schule und Beruf noch in der Zeit der Weimarer Republik und der damit in einem Rechtsstaat entwickelten und geprägten Vorstellungen von Recht und Unrecht wusste er, dass die Tötung eines Menschen, auch eines Juden oder eines Angehörigen der Ostvölker oder anderer von der nationalsozialistischen Führung als minderwertig angesehener und behandelter Bevölkerungsteile, ohne rechtskräftiges Gerichtsurteil auch unter den damaligen politischen und militärischen Umständen ein schweres Verbrechen war. Trotz dieser Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der Anordnung vom 11.9.1944 und der darauf zu stützenden Hinrichtungen glaubte er, dass er als SS-Offizier dieser Anordnung seiner vorgesetzten Dienstbehörde gehorchen und die Hinrichtungen befehlen und durchführen lassen müsse. Dabei hätte er jedoch