Justiz und NS-Verbrechen Bd.XX

Verfahren Nr.569 - 589 (1964 - 1965)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.281

 

Lfd.Nr.579a    LG Aurich    26.06.1964    JuNSV Bd.XX S.304

 

zu enthalten, sofort alles, was über Gegenstörungen in Erfahrung gebracht wird, den deutschen Stellen zu melden und sich sofort arbeitsmässig am Wiederaufbau, vor allem in der Landwirtschaft, intensiv zu beteiligen. Sollte sich einer erneut eines Vergehens schuldig machen, werde er erschossen. Dann wurden sie entlassen.

Man kann sich keine Vorstellung machen, welche Freude, Dankbarkeit und Begeisterung diese unsere Massnahme jeweils bei den Freigelassenen und der Bevölkerung auslöste. Mit scharfen Worten musste man sich oft der Begeisterung erwehren, wenn Frauen, Kinder und Männer mit tränenden Augen versuchten, uns die Hände und Füsse zu küssen."

 

5. Die Massenexekutionen durch das Einsatzkommando "Stapo- und SD-Abschnitt Tilsit"

 

Zum Beginn des Russlandfeldzuges erhielt der Leiter der Stapostelle Tilsit, der Zeuge Böhme, drei Geheimerlasse des RSHA, die im folgenden mit A, B und C bezeichnet werden. Die Erlasse A und B gingen ihm schon einige Tage vor Feldzugsbeginn zu, während der Erlass C möglicherweise erst am Morgen des 22.Juni 1941 bei ihm eintraf.

Der Erlass A behandelte die völlige Sperrung der Grenze für den Fall "Barbarossa". Danach war die Grenze vom Beginn des Kampfes mit Russland an zu schliessen. Auch die Angehörigen der Grenzpolizei sollten die Grenze nicht überschreiten. Einzelreisende durften nur mit einem vom OKH ausgestellten Sonderausweis durchgelassen werden. Etwaige Versuche der Wehrmacht, festgenommene Zivilpersonen in das Reichsgebiet abzuschieben, waren zurückzuweisen.

Der Erlass B betraf die Organisation, Gliederung und Bereiche der Einsatzgruppen unter Namensnennung ihrer Führer; jedoch waren die Aufgaben der Einsatzgruppen nicht genau bezeichnet, insbesondere die "Sonderbehandlung" der Juden und Kommunisten nicht erwähnt.

Der Erlass C, der erst am Tage des Kriegsausbruches zu öffnen war, handelte von der physischen Vernichtung der kommunistischen Funktionäre, der politischen Kommissare, der leitenden Personen, der Mittelinstanzen und aller Juden. Die Einsatzkommandos sollten mit den Ortskommandanten Fühlung aufnehmen, gefährliche Personen von ihnen übernehmen und diese "weiterbehandeln", d.h. töten.

 

Am Sonnabend, dem 21.Juni 1941, hielt der Zeuge Böhme in Tilsit eine Dienstbesprechung der Grenzpolizeipostenführer ab. An dieser Besprechung nahm auch der Zeuge Wilhelm Schmidt teil. Für die Nebenstelle Heydekrug war der Zeuge Ba. erschienen; der Angeklagte Bastian war nicht anwesend. Böhme gab bei dieser Besprechung den Inhalt der Erlasse A und B, nicht aber den Inhalt des Erlasses C bekannt, von dem er selbst noch keine Kenntnis hatte. Er machte den Grenzpolizeiposten die Durchführung der Grenzsperre sowie die Benachrichtigung der Zollbehörden zur Pflicht. Ferner forderte er sie auf, selbst nicht über die Grenze zu gehen und keine Zivilisten durchzulassen.

Am Sonntag, dem 22.Juni 1941, begann morgens um 3.05 Uhr der Angriff auf die Sowjetunion. Danach nahm der Zeuge Böhme befehlsgemäss von dem Inhalt des Erlasses C Kenntnis. Er gab diesen Erlass aber zunächst nicht an die ihm unterstellten Einheiten der Grenzpolizei weiter.

 

Am Abend des 23.Juni 1941 (nicht des 22.Juni 1941, wie im Ulmer Schwurgerichtsurteil 79 festgestellt ist) fand sich der Führer der Einsatzgruppe A, SS-Brigadeführer Dr. Stahlecker, von Pretzsch kommend auf der Dienststelle der Stapo Tilsit ein. Er erteilte dem Zeugen Böhme unter Hinweis auf seine Sondervollmachten und auf den sogenannten Barbarossabefehl den Auftrag, mit den Angehörigen des Stapoabschnitts Tilsit in einem 25 km breiten Grenzstreifen, der ostwärts der damaligen Reichsgrenze lag, die "Sonderbehandlung" aller Juden einschliesslich der Frauen und Kinder und der kommunistenverdächtigen Litauer durchzuführen. Als der Zeuge Böhme einwandte, er habe dafür nicht genügend Leute, erwiderte Dr. Stahlecker, ihm ständen ja noch die Angehörigen des SD-Abschnitts Tilsit zur Verfügung, die natürlich mitmachen müssten.

 

79 Siehe Lfd.Nr.465.