Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLIX

Verfahren Nr.920 - 924 (2002 - 2012), 880 (Erratum), 950 - 959 (1945 - 1960; Nachtragsverfahren)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.924 LG München II 12.05.2011 JuNSV Bd.XLIX S.227

 

Lfd.Nr.924    LG München II    12.05.2011    JuNSV Bd.XLIX S.295

 

Im Jahr 1943 seien dann grössere Transporte regelmässig angekommen, teilweise auch aus Holland. Bei Ankunft der Züge seien jeweils mehrere Waggons in das Vorgelände des "Lagers I" rangiert worden. Bei der Entladung der ankommenden Personen seien ein "Bahnhofskommando" von rund zwölf "Arbeitsjuden" sowie etwa drei bis vier Hilfswillige tätig gewesen. Teilweise sei beim Aussteigen mit Gewalt nachgeholfen worden. Eine Trennung der Kinder von ihren Müttern sei praktisch kaum möglich gewesen, weil sie sonst gewusst hätten, was ihnen bevorstand.

 

Die gehfähigen Juden seien sogleich in das "Lager II" geführt worden. Zwischenzeitlich seien die nicht mehr gehfähigen Juden von den "Arbeitsjuden" aus den Waggons hinausgeworfen worden und zwar zuweilen mit einer derartigen Brutalität, dass sogar von den anwesenden Deutschen manchmal eingeschritten worden sei. Diese Personen seien in die Wagen der Lorenbahn verbracht und direkt in das "Lager III" gefahren worden. Den übrigen Personen sei im "Lager II" bei einer Ansprache erklärt worden, dass sie sich entkleiden und ihre Wertsachen abgeben müssten; sie würden gebadet und desinfiziert werden, um anschliessend zur Arbeit eingeteilt zu werden. Anschliessend seien sie durch den "Schlauch" geführt worden, wobei einer der deutschen Stammbesatzung bis zum Vergasungsgebäude vorangegangen sei und mehrere Hilfswillige die Juden hindurch getrieben hätten und hinterher gegangen seien.

 

Die Juden seien nun von der Stammbesatzung des "Lagers III" übernommen worden und in den Gaskammerbau gegangen, wo sie von dem Korridor aus in die einzelnen Vergasungsräume gelangt seien. Die Luftschutztüren seien sodann geschlossen und der Motor im Maschinenraum in Gang gesetzt worden. Dadurch sei die Vergasung durchgeführt worden. Auf der anderen Seite des Vergasungsgebäudes hätten sich ebenfalls Türen befunden, vor denen bereits die "Arbeitsjuden" des "Lagers III" und Hilfswillige gewartet hätten, die nach der etwa 20- bis 30-minütigen Vergasung die Leichen auf die Lorenwagen geladen und in die Gruben gefahren hätten. In den Gruben seien die Leichen auf Rosten, die aus Eisenbahnschienen hergestellt worden seien, verbrannt worden.

 

Kurze Zeit vor der Einstellung der Vernichtungen in Sobibor sei noch mit dem Aufbau des "Lagers IV" begonnen worden, das sich ausserhalb des ursprünglichen Lagergeländes in einem Wald befunden habe und zur Lagerung von Munition dienen sollte.

 

Jeder Angehörige der Stammbesatzung sei nach und nach an jeder zur Vernichtung gehörenden und in diesem Zusammenhang ausgeführten Tätigkeit im Laufe der Zeit beteiligt gewesen, wenngleich der eigentliche Vergasungsvorgang ausschliesslich von der Besatzung des "Lagers III" durchgeführt worden sei.

 

Den Ablauf der Vernichtung hatte Erich Bauer bereits in einer Vernehmung vom 10.Januar 1962 mit der Formulierung beschrieben, dass sich im Laufe der Zeit der Vernichtungsvorgang routinemässig so eingespielt gehabt habe, dass alles "wie ein Uhrwerk funktioniert" habe. Innerhalb des Lagers hätte normalerweise jeder Angehörige des Stammpersonals eine bestimmte Funktion ausgeübt. Wenn jedoch ein Judentransport angekommen sei, sei so viel "Arbeit" angefallen, dass die regelmässige Beschäftigung eingestellt worden sei und jeder Angehörige des Stammpersonals in den routinemässigen Vernichtungsvorgang irgendwie eingreifen habe müssen.

 

Es sei verwunderlich gewesen, dass die Juden ahnungslos in den Tod gegangen seien.

 

Während die "Arbeitsjuden" die Vernichtungsopfer aus den Waggons entladen hätten, seien "ukrainische Hiwis" mit gezogenen Karabinern Wache gestanden. Hierbei habe jeweils ein Angehöriger des Stammpersonals die Oberaufsicht geführt.