Justiz und NS-Verbrechen Bd.XX

Verfahren Nr.569 - 589 (1964 - 1965)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

> zum Inhaltsverzeichnis

Lfd.Nr.579a LG Aurich 26.06.1964 JuNSV Bd.XX S.281

 

Lfd.Nr.579a    LG Aurich    26.06.1964    JuNSV Bd.XX S.295

 

2. Die Juden im Memelland und im litauischen Grenzraum bis zumEinmarsch der deutschen Truppen

 

Bis zur Besetzung des Memellandes durch Litauen im Jahre 1923 war der Anteil der jüdischen Bevölkerung im Memelland gering. Dieser Zustand änderte sich jedoch bald, da aus Litauen, das eine verhältnismässig starke jüdische Bevölkerung aufwies, eine Masseneinwanderung von Juden in das Memelland einsetzte. Die Juden siedelten sich aber vorwiegend in den grossen Städten - vor allem in Memel - an, während der Zustrom der Juden in die Kleinstädte und auf das Land wesentlich schwächer war. Immerhin gab es in Heydekrug im Jahre 1938 über 100 jüdische Familien, die hauptsächlich vom Handel und vom Handwerk lebten. Das Verhältnis zwischen den Juden und der übrigen Bevölkerung war trotz der nationalsozialistischen Hetzpropaganda, die auch in das unter litauischer Herrschaft stehende Memelland drang, durchaus ungetrübt. Von einer antisemitischen Einstellung der Memeldeutschen war - jedenfalls bis zum Anschluss im März 1939 - nichts zu bemerken. Dennoch blieben die Geschehnisse im Reichsgebiet nicht ohne Einfluss auf das Memelland. Schon die Ereignisse der sogenannten "Reichskristallnacht" veranlassten viele Juden zur Rückkehr in ihre litauische Heimat oder zur Auswanderung nach Übersee. In den Tagen vor dem Anschluss des Memellandes an das Deutsche Reich und in den unmittelbar folgenden Tagen verliessen dann fast alle Juden fluchtartig das Memelland, und zwar auch die alteingesessenen Juden, die schon vor dem Jahre 1923 im Memelland gewohnt hatten. Sie siedelten sich zumeist im benachbarten litauischen Grenzgebiet an. In Heydekrug blieben nur ganz wenige alteingesessene Juden zurück.

Nach dem Anschluss wurden auch im Memelland die jüdischen Kultstätten von Angehörigen der NS-Formationen (wahrscheinlich von SA-Mitgliedern) zerstört. In Heydekrug setzten unbekannte Täter die Synagoge in Brand; ausserdem wurde der jüdische Friedhof demoliert. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung zeigte indessen für diese - offenbar von höherer Stelle veranlassten - Ausschreitungen kein Verständnis.

Im benachbarten litauischen Grenzraum war im Sommer 1941, als der Russlandfeldzug begann, der Anteil der jüdischen Bevölkerung recht hoch. Es handelte sich teils um alteingesessene Juden, teils um solche, die in den Jahren 1938 und 1939 aus dem Memelland geflüchtet waren. So hatten auch die in der Nähe von Heydekrug gelegenen litauischen Grenzorte Naumiestis (deutscher Name: Neustadt) und Vainutas eine starke jüdische Bevölkerung. Der Handel und das Handwerk befanden sich fast ausschliesslich in jüdischer Hand. In Sveksna, Vevirzeniai, Kvedarna und Laukova waren die Verhältnisse ähnlich.

Obwohl die Juden Handel und Gewerbe beherrschten und die Bauern vielfach bei ihnen verschuldet waren, hatte es zwischen Juden und Litauern früher keine ernsthaften Spannungen gegeben. Dieses Verhältnis verschlechterte sich jedoch, als Litauen im Juni 1940 in die Sowjetunion eingegliedert wurde, da offenbar ein Teil der Juden eng mit den Kommunisten zusammenarbeitete. Jedenfalls fanden die deutschen Truppen bei ihrem Einmarsch im Juni 1941 in der litauischen Bevölkerung eine starke judenfeindliche Einstellung vor. Viele Litauer, die die Deutschen als ihre Befreier vom Bolschewismus begrüssten, waren sofort bereit, sich an Gewaltmassnahmen gegen die jüdischen Einwohner zu beteiligen.

 

3. Die "Endlösung der Judenfrage" und der sogenannte "Barbarossabefehl"

 

Schon vor Kriegsausbruch hatte Adolf Hitler eine physische Vernichtung der Juden erwogen. Dies geht aus seiner Reichstagsrede vom 30.Januar 1939 hervor, in der er u.a. erklärte:

"Ich will heute wieder ein Prophet sein. Wenn es dem internationalen Finanzjudentum innerhalb und ausserhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa."

Im Zusammenhang mit dem geplanten Angriff auf die Sowjetunion, dem Unternehmen "Barbarossa", beauftragte Hitler den Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei,