Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLIX

Verfahren Nr.920 - 924 (2002 - 2012), 880 (Erratum), 950 - 959 (1945 - 1960; Nachtragsverfahren)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.924 LG München II 12.05.2011 JuNSV Bd.XLIX S.227

 

Lfd.Nr.924    LG München II    12.05.2011    JuNSV Bd.XLIX S.288

 

Er habe das Lager am 22.Juli 1942 verlassen und von da an mit der Polin und gefälschten Papieren in Warschau und dann in Gdingen gelebt, wo er mit dem Geld und Wertsachen, die er den Juden vor der Ermordung abgenommen hatte, ein Geschäft eröffnet habe. In die Sowjetunion sei er aus Angst vor der Verantwortung nicht zurückgekehrt.

 

- Pawel Leleko in der Vernehmung vom 14.November 1944: Es habe mehr als eine Möglichkeit zur Flucht gegeben. Sie - die Ukrainer - hätten jedoch im Lager [Treblinka] gut gelebt, und sie hätten Angst gehabt, gefangen genommen zu werden. Sie hätten freien Ausgang in die umliegenden Dörfer in der Nähe des Lagers gehabt, wo sie Lebensmittel und Wodka gekauft hätten. Ohne Wodka habe man keine Möglichkeit gehabt, im Lager zu arbeiten und die ganze Vernichtung von Menschen zu sehen.

 

i) Innere Einstellung der Wachleute

 

Insgesamt ergibt sich aus den vorliegenden Erkenntnisquellen, dass es Wachleuten in tatsächlicher Hinsicht möglich war, sich dem Dienst in den Vernichtungslagern zu entziehen, ohne hierdurch in unmittelbare Todesgefahr zu kommen oder die Gefahr schwerwiegender Nachteile für ihre Gesundheit oder Freiheit befürchten zu müssen. Dass konkret auch Fluchten aus dem Lager Sobibor erfolgreich waren, ist zumindest punktuell belegt. Dem steht auch nicht entgegen, dass in der Kriegssituation per se bereits die Gefahrenlage deutlich erhöht war und - abhängig vom jeweiligen Frontverlauf - in den möglichen Fluchtregionen neben militärischen Einheiten auch verschiedene Partisanengruppen aktiv waren. Den Hinweisen auf erfolgreiche Fluchten ist jedenfalls teilweise zu entnehmen, dass Hilfestellung in dörflichen Strukturen zu erwarten war oder ein Anschluss an die Partisanengruppen eine reale, wenn auch nicht gänzlich risikofreie Option darstellte.

 

Es gibt ferner auch keinen konkreten Hinweis darauf, dass Wachmänner generell objektiv irrtümlich angenommen hätten, ein Entfernen oder Fernbleiben vom Dienst bringe solche massiven Gefahren mit sich. Vielmehr zeigt eine Gesamtschau der Beweismittel, dass die tatsächlichen Umstände, in denen die Wachleute ihren Dienst verrichteten, Freiräume boten, etwa Ausgang in umliegende Dörfer, Kontakte zu Frauen und Alkoholkonsum, obwohl dies den grundlegenden Anweisungen der Lagerleitungen zuwiderlief. Auch die Vielzahl allein der dokumentierten Fluchten spricht gegen ein generelles Stimmungsbild der Angst, zumal die Wachmänner auch durch ihre Bewaffnung zumindest innerhalb des Lagers eine dominante Position hatten und die vergleichsweise wenigen Angehörigen der Lagerleitung trotz der Vorgesetztenstellung faktisch von der Mitwirkung der Trawniki-Einheiten abhängig waren.

 

Bei einer solchen Stimmungslage liegt es dann aber auch gerade nicht auf der Hand, dass einzelne Trawniki-Männer gleichwohl allein durch die (irrige) Annahme einer unmittelbaren Todesgefahr trotz eines massiven Gewissenskonfliktes von einer Flucht abgehalten worden wären. Vielmehr deutet das Beweisergebnis darauf hin, dass der einzelne Wachmann am ehesten den Dienst - möglicherweise auch trotz moralischer Bedenken - deshalb ableistete, weil er sich in seiner konkreten Position vor den Gefahren und Notlagen des Krieges weitgehend geschützt sah und deshalb nicht auf möglicherweise nachteilige Alternativen ausweichen wollte.

 

IV. Vernichtungslager Sobibor

 

Die Feststellungen über das Vernichtungslager Sobibor, namentlich dessen Errichtung, Verwaltung und Betriebsstruktur sowie die dortigen Vernichtungsvorgänge beruhen ebenfalls auf dem Gutachten des Sachverständigen Dr. P., welches durch weitere Beweismittel bestätigt und ergänzt wird.