Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLIX

Verfahren Nr.920 - 924 (2002 - 2012), 880 (Erratum), 950 - 959 (1945 - 1960; Nachtragsverfahren)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.924 LG München II 12.05.2011 JuNSV Bd.XLIX S.227

 

Lfd.Nr.924    LG München II    12.05.2011    JuNSV Bd.XLIX S.284

 

Exemplarisch kommt die kritische Einstellung speziell gegenüber den Ukrainern in einem Schreiben des "Führers des SS-T. Sturmbanns KGL Lublin" an die "Kommandatur 124 KGL der Waffen-SS Lublin" vom 24.Januar 1943 zum Ausdruck, in dem es heisst:

 

"SS-Oberscharführer Erlinger, von Trawniki mit beiden ukrainischen Kompanien gekommen und als verantwortlich für beide eingesetzt, meldete am 22.Januar 1943: Die Ukrainer singen des Abends in etwas angeheitertem Zustand kommunistische Befreiungslieder von Stalin. Die Lieder würden in der ganzen Baracke heimlich mehr gesummt [...]. Es ginge die Rede unter den Ukrainern, dass derjenige hinterrücks erschossen würde, welcher über das Singen eine Meldung erstattet. [...] SS-Oberscharführer Erlinger hält die Ukrainer nicht für zuverlässig. Sie würden, sobald es nur eine günstige Gelegenheit gäbe, ohne Zögern meutern. Der augenblicklich geregelte Wach- bzw. Begleit- oder auch persönliche Arbeitsdienst sei den Ukrainern zu langweilig. Ausserdem könnten sie nichts "verdienen". Die Begeisterung für den Dienst unter deutscher Kommandogewalt sei in dem Augenblick restlos verschwunden, als die Räumung der Ghettos [...] beendet war und die Ukrainer ordnungsmässigem Dienst zugeführt wurden. Bei den Räumungsarbeiten hätten sie in Geld geschwommen, das fehle ihnen jetzt. Wenn es ans Räubern oder Totschlagen ginge, ständen sie an erster Stelle. Eine Zuverlässigkeit für anderen Dienst könne man nicht voraussetzen [...] Vorschlag: Für richtig wird befunden, gelegentlich dem SS- und Pol.Führer SS-Gruppenführer Globocnig [gemeint: Globocnik] bzw. dem Stabsführer SS-Sturmbannführer Höfele [gemeint: Höfle] Kenntnis von dem vorstehenden Stimmungsbild zu geben. [...] Vielleicht ist zu erwägen, dass zwischenzeitliche besondere Alkoholzuteilungen den Ukrainern vorenthalten werden."

 

Über diese generelle Einschätzung hinaus belegen auch weitere Schreiben einzelne Disziplinarverstösse von Wachmännern. So informierte etwa das Ausbildungslager Trawniki die Kommandantur des Kriegsgefangenenlagers der Waffen-SS in Lublin am 20.Januar 1943 über eine Meldung der Schutzhundestaffel vom 13.Januar 1943, wonach die Wachmänner Krutj, Erkennungsnummer 1950, und Laselnij, Erkennungsnummer 292, trotz bekanntgegebener Lagersperre auf unerlaubte Weise die Unterkunft sowie den Lagerbereich verlassen hätten und in das Dorf gegangen seien, um Lebensmittel einzukaufen 125. In einem Schreiben vom 24.Januar 1943 wurde ebenfalls die Kommandantur der Kriegsgefangenenlager der Waffen-SS in Lublin darüber informiert, dass zwei ukrainische Wachmänner regelmässig ein polnisches Haus ausserhalb der Lagergrenze aufsuchen würden, um dort mit Frauen Geschlechtsverkehr zu haben.

 

h) Fluchten und unerlaubte Abwesenheit

 

Neben diesen Regelverstössen lagen jedoch auch eine Vielzahl von Fällen der Flucht oder des dauerhaften unerlaubten Fernbleibens vom Dienst vor, wie entsprechende Meldungen belegen. Bei den Mitteilungen über flüchtige Wachmänner wurde dabei meist auch aufgeführt, ob der Flüchtige bewaffnet ist oder nicht, was mit der Einschätzung des Sachverständigen Dr. P. korrespondiert, wonach zwischen unerlaubtem Fernbleiben vom Dienst (ohne Waffe) und der mit der Todesstrafe bedrohten Desertion (Flucht im Dienst mit Waffe) unterschieden wurde.

 

124Sic!

125 Zur inhaltlich ähnlichen Meldung betr. "Deminjuk Erk. 1393" vom 20.Januar 1943 siehe unten C VIII 1 e Seite 322 f.