Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLIX

Verfahren Nr.920 - 924 (2002 - 2012), 880 (Erratum), 950 - 959 (1945 - 1960; Nachtragsverfahren)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.924 LG München II 12.05.2011 JuNSV Bd.XLIX S.227

 

Lfd.Nr.924    LG München II    12.05.2011    JuNSV Bd.XLIX S.260

 

Der Sachverständige schilderte im Einzelnen die Einrichtung und Inbetriebnahme der Vernichtungslager sowie deren personelle Ausstattung. Der letzte Anstoss zur Totalvernichtung der Juden sei spätestens in dem Befehl Himmlers vom 19.Juli 1942 an den HSSPF Krüger und über diesen an Globocnik zum Ausdruck gekommen:

"Ich ordne an, dass die Umsiedlung der gesamten jüdischen Bevölkerung des Generalgouvernements bis 31.Dezember 1942 durchgeführt und beendet ist. Mit dem 31.Dezember 1942 dürfen sich keinerlei Personen jüdischer Herkunft mehr im Generalgouvernement aufhalten. Es sei denn, dass sie sich in den Sammellagern Warschau, Krakau, Tschenstochau, Lublin aufhalten."

Diese Anweisung sei das letzte Signal zur totalen Massenvernichtung gewesen, deren Vorbereitungen bis dahin, nicht zuletzt mit der Errichtung des dritten Vernichtungslagers in Treblinka, abgeschlossen gewesen seien.

 

Die "Aktion Reinhardt" sei "Geheime Reichssache" gewesen. Die Reichsführung habe aussenpolitische Nachteile befürchtet, was z.B. Goebbels namentlich erwähnt habe. Viele Befehle und Weisungen seien nur mündlich gegeben worden; die Anlegung von Akten hierüber habe man vermieden. Zudem seien gegen Kriegsende wegen der vorrückenden alliierten Fronten in Berlin und auch bei den Lagerverwaltungen in grossem Umfang Dokumente vernichtet worden, damit keine Beweise in die Hände der Gegner fallen sollten.

 

Das Geheimhaltungsbedürfnis habe sich darin niedergeschlagen, dass die Aktion mit einem möglichst geringen Personalaufwand umgesetzt worden sei. Das Personal habe zum grössten Teil aus der "Aktion T4" gestammt, die ebenfalls unter höchster Geheimhaltung abgelaufen sei. Die drei Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka seien im Schriftverkehr oft als "Durchgangslager" und als "Sonderkommando" bezeichnet worden.

 

In der Zeit von Ende Juli bis Mitte Oktober 1942 habe die Vernichtungskampagne gegen die Juden im Generalgouvernement ihren Höhepunkt erreicht. In nahezu jeder Stadt seien blutige Ghettoräumungen durchgeführt und in den drei Vernichtungslagern täglich Tausende von Menschen, innerhalb von etwa zwölf Wochen mindestens 1,27 Millionen, getötet worden.

 

Bereits Anfang November 1942 sei die sogenannte "Endlösung der Judenfrage" im Distrikt Lublin als weitgehend abgeschlossen angesehen worden. Spätestens ab Januar 1943 seien regelmässig und in zunehmender Anzahl Juden aus anderen besetzten Ländern auf Veranlassung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) in Berlin nach Sobibor und Treblinka deportiert worden, um sie dort zu töten.

 

Nach dem Häftlingsaufstand im Warschauer Ghetto sei es auch in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor zu Revolten der Häftlinge gekommen, woraufhin Himmler die Auflösung der Lager ab Oktober 1943 veranlasste, was am 2. und 3.November 1943 in der sogenannten "Aktion Erntefest", bei der insgesamt etwa 42.000 jüdische Zwangsarbeiter erschossen worden seien, gegipfelt habe. Damit sei die "Aktion Reinhardt" beendet worden; die Spuren der Lager seien weitgehend verwischt und die Lagergelände eingeebnet worden.

 

4. Dokumentenlage zur Judenverfolgung

 

Diese Darlegungen des Sachverständigen zum zeitgeschichtlichen Hintergrund konnten anhand von verlesenen Dokumenten nachvollzogen werden.