Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLIX

Verfahren Nr.920 - 924 (2002 - 2012), 880 (Erratum), 950 - 959 (1945 - 1960; Nachtragsverfahren)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.924 LG München II 12.05.2011 JuNSV Bd.XLIX S.227

 

Lfd.Nr.924    LG München II    12.05.2011    JuNSV Bd.XLIX S.258

 

für den Übergang zum systematischen Massenmord, nachdem sich zu dieser Zeit abgezeichnet habe, dass die geplante rasche Eroberung der Ostgebiete scheitern würde.

 

3. Sachverständiger Dr. P.: Befehle zur "Endlösung"

 

Der Sachverständige legte unter Erörterung verschiedener wissenschaftlich-historischer Deutungsmöglichkeiten anhand von Texten zeitgeschichtlicher Dokumente, die von ihm als Archivbestand gesichtet und ausgewertet wurden, die Entscheidungs- und Befehlswege dar, die Ausgangspunkt dieser systematischen Ermordung der Juden im deutschen Machtbereich geworden seien.

 

So sei es zwar umstritten, ob und gegebenenfalls wann Adolf Hitler ausdrücklich den Befehl hierzu erteilt habe. Adolf Eichmann, Heydrichs zuständiger Referent für Judenfragen im RSHA, habe als Angeklagter in Israel von einem generellen Mordbefehl Hitlers etwa im August oder eher im September 1941 gesprochen. Die vorhandenen Quellen würden jedoch darauf hindeuten, dass die Befehlsstruktur mehrstufig gewesen sei. Die Vernichtungspläne seien in der Zeit vor dem Angriff auf die Sowjetunion hauptsächlich gegen Juden in sowjetischen Staats- und Parteistellungen und jüdische Rotarmisten gerichtet gewesen und erst später dann gegen alle jüdischen Männer in der Sowjetunion. In diesem Zusammenhang sei die Behandlung der Juden durch die hinter der Front operierenden Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei zu sehen. 109

 

Spätestens im Hochsommer 1941 habe es jedoch bereits eine noch weiter gehende Planung gegeben, was sich aus einem Schreiben von Hermann Göring in seiner Funktion als Vorsitzender des Reichsverteidigungsrates an Heydrich vom Juli 1941 ergebe, welches wie folgt lautet:

"In Ergänzung der Ihnen bereits mit Erlass vom 24.Januar 1939 übertragenen Aufgabe, die Judenfrage in Form der Auswanderung oder Evakuierung einer den Zeitverhältnissen entsprechend möglichst günstigen Lösung zuzuführen, beauftrage ich Sie hiermit, alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa. Sofern hierbei die Zuständigkeiten anderer Zentralinstanzen berührt werden, sind diese zu beteiligen. Ich beauftrage Sie weiter, mir in Bälde einen Gesamtentwurf über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Vorausmassnahmen zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen."

 

Insgesamt sei der Entscheidungsfindung zur sogenannten "Endlösung der Judenfrage" ein Abstimmungsprozess zwischen den zentralen Institutionen des Reichs, namentlich in Berlin, und den deutschen Funktionären in den besetzten Gebieten vorausgegangen, zumal auch letztere darauf gedrängt hätten, die unhaltbaren sozialen Zustände, die durch die Ghettoisierung entstanden seien, zu beseitigen. Besonders engagiert habe sich hierbei der SS- und Polizeiführer (SSPF) in Lublin, Odilo Globocnik gezeigt. Dieser habe sich mit Schreiben vom 1.Oktober 1941 an Himmler gewandt und dabei ausgeführt, dass "auch der Einfluss der Juden [...] eine Form angenommen hat, dass auch hier rein sicherheitspolitisch gesehen, zugegriffen werden muss." Daraufhin habe Himmler ausweislich seines Dienstkalenders am 13.Oktober 1941 eine Konferenz mit Odilo Globocnik und dessen Vorgesetzten, dem HSSPF im Generalgouvernement Krüger abgehalten, über deren konkreten Inhalt zwar nichts bekannt sei, in deren Folge jedoch die ersten Vorbereitungen für den Aufbau der Vernichtungslager im Distrikt Lublin und eine verschärfte Abriegelung der dortigen Ghettos mit Androhung der

 

109 Siehe oben B II 4 Seite 231.