Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLIX

Verfahren Nr.920 - 924 (2002 - 2012), 880 (Erratum), 950 - 959 (1945 - 1960; Nachtragsverfahren)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.924 LG München II 12.05.2011 JuNSV Bd.XLIX S.227

 

Lfd.Nr.924    LG München II    12.05.2011    JuNSV Bd.XLIX S.256

 

die zu irgendeinem Zeitpunkt Einfluss auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit gehabt haben könnten, liegen nicht vor.

 

C. Beweiswürdigung

 

I. Einlassung des Angeklagten

 

Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung nur teilweise zur Sache eingelassen. Im Rahmen einer Erklärung am 13.April 2010 hat er ausgeführt, Deutschland sei schuld daran, dass er noch Jahre nach dem Krieg als "DP" in "DP-Camps" hausen und ein elendiges Leben habe führen müssen.

 

In einer weiteren Erklärung am 22.Februar 2011 hat er an Tatsachen zu seiner Lebensgeschichte lediglich allgemein ausgeführt, dass er als Kind in der Stalinzeit zum "Holodomor", d.h. dem Tod durch Verhungern "verurteilt" worden sei, und dass ihm als Kriegsgefangener der Tod durch Verhungern und Kannibalismus gedroht habe.

 

In einer Erklärung vom 23.November 2010 führte er zur Sache aus, dass er in Israel wegen des Vorwurfs, Wachmann in Sobibor gewesen zu sein, 7½ Jahre unschuldig in Haft gewesen sei.

 

II. Zeitgeschichtlicher Hintergrund

 

Die Feststellungen zum zeitgeschichtlichen Hintergrund, zur Ideologie des Nationalsozialismus und deren Umsetzung während der Dauer des sogenannten Dritten Reiches, sowie zum Ablauf des Zweiten Weltkrieges sind in den wesentlichen Teilen allgemeinkundig.

 

Vertiefend und ergänzend erstattete hierzu der Historiker Dr. Dieter P., Abteilungsleiter am Institut für Zeitgeschichte in München, ein Sachverständigengutachten, in dem er auf vielfache Details des zeitgeschichtlichen Kontextes - sowie darauf aufbauend auf zahlreiche Einzelheiten der Judenverfolgung während des Dritten Reiches, speziell in den besetzten Ostgebieten, einschliesslich der organisierten Massenvernichtungen einging.

 

Der Sachverständige bediente sich hierbei in allen von ihm angesprochenen Themenfeldern klar erkennbar einer fundierten Quellenkenntnis und zog hieraus differenzierte und nachvollziehbare Schlussfolgerungen. Dabei wurde deutlich, dass - wie von ihm selbst dargelegt - gerade das Thema der Judenverfolgung in den östlichen Besatzungsgebieten während des Zweiten Weltkrieges sein jahrelanger Forschungsschwerpunkt war, er deshalb auch mit dem Quellenmaterial aus diversen europäischen Archiven aufgrund eigener Recherche vertraut ist und zurecht zu den Historikern gezählt wird, die zu diesem Themenfeld weltweit als am renommiertesten gelten. Er trat bereits mehrfach, auch im Ausland 107, als Gutachter in Prozessen gegen Mitglieder der fremdvölkischen Wachmannschaften auf.

 

Die Kammer konnte in vielen Details die Ausführungen des Sachverständigen mit vorhandenen Dokumenten im Aktenbestand abgleichen und hinsichtlich der allgemeinen historischen Fragen am eigenen Kenntnisstand messen; hierbei traten zu keinem Zeitpunkt Diskrepanzen auf, welche die Ausführungen des Sachverständigen als unzutreffend oder fragwürdig erscheinen

 

107Gemeint ist wohl: "Er trat bereits mehrfach im Ausland ...". Dabei ging es hauptsächlich um eine gutachterliche Tätigkeit für das Office of Special Investigations in Verfahren in den USA zur Aberkennung der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft von nach 1945 in den USA eingebürgerten fremdvölkischen NS-Kollaborateuren. In deutschen NSG-Prozessen ist Dr. P. bis zum Demjanjukverfahren als Gutachter nicht in Erscheinung getreten.